: „Die versuchen eine Steigerung“
Wolfgang Nossen, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, über antisemitische Anschläge
taz: Herr Nossen, Sie haben mehrfach geäußert, der Anschlag auf die Erfurter Synagoge habe Sie „nicht überrascht“. Wie kommen Sie zu dieser Aussage? Wolfgang Nossen: In Deutschland passiert jede Woche irgendwo etwas Antisemitisches. Wenn bei fast all solchen Anschlägen die Täter nicht dingfest gemacht werden können und Strafen in aller Regel relativ moderat sind, dann ermutigt das rechte Kreise. Dann versuchen die auch mal eine Steigerung.
Wie kommen Sie zu dieser Aussage? Wird Ihre Gemeinde oft bedroht?
Ja, allerdings. Das fing schon 1991 an. Da haben Rechte mit Pflastersteinen ein Synagogenfenster zertrümmert. Vor fünf Wochen wurde der Friedhof geschändet. Und dann gab es diverse Vorfälle über die Jahre verteilt.
Welcher Art?
Vor vier Jahren warfen Rechtsextreme zwei halbe Schweinsköpfe über den Zaun auf unser Grundstück. Speziell nachts kriegen wir Anrufe. Dann hatten wir Einbruchsversuche. Skins haben sich unter der Überwachungskamera aufgestellt. Die hatten gar keine Angst, erkannt zu werden, haben hier Nazilieder abgesungen und „Judenschweine“ gerufen. Komischerweise hat das niemals ein Nachbar gehört.
Wie geht Ihre Gemeinde mit diesen Bedrohungen um?
Ich habe am Freitag im Gottesdienst versucht, zu beschwichtigen. Dass Deutschland nicht frei ist von Antisemitismus, das musste jedem klar sein. Die meisten Gemeindemitglieder kommen aus Osteuropa, wo nicht weniger Antisemitismus herrscht. Sie sind gewohnt, sich ein bisschen zu verstecken. Ich vertrete allerdings eine andere Linie. Ich denke nicht daran, meinen Kopf einzuziehen.
Fühlen Sie sich von der Bevölkerung im Stich gelassen?
Nein, im Gegenteil. Die vielen Menschen, die hier Mahnwache gehalten haben, die mitfühlenden Adressen. Das hat mich freudig überrascht. Die Bevölkerung ist im Begriff aufzuwachen.
Ist der Antisemitismus im Osten eine größere Bedrohung als im Westen?
Ich würde, was Antisemitismus betrifft, keinen Unterschied machen zwischen Ost und West. Übergriffe auf jüdische Einrichtungen gibt es auf beiden Seiten in gleichem Maße.INTERVIEW: ASTRID GEISLER
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