„Wie werde ich denn endlich sehnsüchtig?“

■ Zwischen Fiktion und Wirklichkeit: Anne Kersting eröffnet mit Kodak Suite, einer biographischen Studie über die sonderbare Künstlerin Sophie Calle, das Junge-Hunde-Festival auf Kampnagel

Augenzeugenberichten zufolge verließ die französische Künstlerin ihr Pariser Atelier, um einem Mann nachzulaufen. Fotografien bestätigen den Vorfall, Worte dokumentieren den Verlauf. Irgendwann verschieben sich Worte und Bilder gegeneinander, brechen die Ereignisse in unterschiedliche Richtungen auf, in Geschichten, wie sie nur die französische Fotokünstlerin Sophie Calle erzählen kann, in denen sie sich selbst inszeniert.

An der Nahtstelle von Fiktion und Wirklichkeit nimmt die junge Regisseurin Anne Kersting in Kodak Suite die Spur auf, heftet sich an die Fersen der mysteriösen Abenteuererin Sophie Calle. Nicht um das Bild von der Künstlerin nachzuzeichnen. Die Methode, mit der diese systematisch ihre Geschichten aufrollt ist es, die Kersting reizt. Die Konsequenz, mit der die exzentrische Erzählerin Projektionsflächen ihrer Sehnsucht besetzt hält – und sei es der Rücken einer Person, die sie niemals von vorne sehen wird.

„Die Art und Weise, wie Sophie Calle autobiografisches Material bearbeitet, interessiert mich“, sagt Kersting zur Erläuterung ihres Stücks, das am 27. April zur Eröffnung des Junge Hunde-Festivals auf Kampnagel Premiere hat. Die strengen Spielregeln, nach denen Calle vorgeht, bildeten das Gerüst einer Versuchsanordnung für die Bühne. „Wie werde ich sehnsüchtig“, erklärt die 28- jährige Theatermacherin, „steht an ersster Stelle. Und wie werde ich das emotionale Potential im begrenzten Rahmen meiner Möglichkeiten wieder los.“ Die Sehnsucht zu leben, ohne Aufschub, sie sich einzugestehen anstatt sie zu träumen, ist das Motiv. Sophie Calle selbst habe da auch nie vor Banalitäten zurück gescheut. Und gerade darin sieht Kers-ting die Gegenwärtigkeit ihrer Kunst, die sie für sich im Theater sucht. Auf Grund autobiografischen Materials die Inszenierung als Resümme zu ziehen, das, sagt Kersting, sei für sie der Schlüssel. „Ganz einfach, weil ich daran glaube.“

Drei Darsteller, die bereit waren das Spiel in ihren Alltag einzubinden, hat die Wahl-Hamburgerin, die vor zwei Jahren ihr Studium am Institut für Angewandte Theaterwissenschaften in Gießen abgeschlossen hat und seither als freie Regisseurin und Dramaturgin arbeitet, mit Kamera und Schreibblock losgeschickt. Klar und reduziert mussten die Zielobjekte sein, echt die Bedürfnisse. Und bloß nichts Skurriles. „Schon jede Ausschmückung erweist sich unmittelbar als verräterisch“, bestätigt die Regisseurin. Entlang der Methoden Sophie Calles werden sie ihre erlebten Sehnsüchte in der Aufführung offen legen. Immer wieder, bestätigt Kersting, habe sie bei Calle nachgeschlagen, um heraus zu finden, wie sie ihre Fäden spinnt, wann sie loslässt, dass sich jene Lücken auftun, die der Inspiration neues Futter geben. „Sie war meine stille Dramaturgin.“

Ihre Geschichten seien doch theatral genug, hatte diese jedoch skeptisch am Telefon reagiert, als Kersting sie um Erlaubnis bat, Texte aus ihrem Buch Doubles-Jeux/Double Games für Kodak Suite zu verwenden. Dem musste die Regisseurin zwar zustimmen, überzeugte aber die Künstlerin davon, das Theater als neuen Ort der Wiedergabe für ihre Arbeiten zu erschließen.

Rotes Schleifenband hält die Buchdeckel, auf denen Sophie Calle an ihrem „Tag mit Brigitte Bardot“ im Babydoll, eine präparierte Katze um den Nacken gelegt, auf einem Bett sitzt, wie bei einem Poesiealbum zusammen. Ein Blick ins Innere auf die schwarz-weißen Fotoserien, lassen dagegen Gedanken an die Filme der „Nouvelle Vague“, an den französischen Neorealismus aufkommen. Und Kersting räumt ein, dass auch sie von Jean-Luc Godard inspiriert zu sei. Vor allem bewundere sie, wie seine Kamera aus den Geschichten ausschert und sich ganz unvermutet eine Nahaufnahme leistet. „Danach suche ich“, sagt die aparte junge Frau, „nach solchen Details, die man normalerweise nicht sieht, über die man leicht hinweg rast.“

Die Tochter einer französischen Mutter und eines deutschen Vaters ist in Paris geboren. Zehn Jahre war sie alt, als die Eltern sich entschieden nach Deutschland zu gehen. „Ich sprach kein Wort deutsch. Es war der Horror“, erinnert sie sich. Heute ist kaum noch ein Akzent zu bemerken. Eloquent reflektiert sie ihrer Arbeit. Eine Art prüfende Distanz im Umgang mit Texten und Sprache hat sie sich jedoch bewahrt. „Text benutze ich auf der Bühne als Material“, erläutert sie, „als eigenständiges Medium und nicht als Mittel zum Zweck.“

Marga Wolff

Do, 27. + Fr, 28. + Sa, 29. April, 20 Uhr + So, 30. April, 21 Uhr, k2