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Prinzip: Entblößung

Warum der Kult um Depeche Mode kein Ende nimmt: Steve Malins’ Biografie geht einem seltsamen Pop-Phänomen auf den Grund

von SUSANNE MESSMER

Alle paar Wochen kündigt wieder ein neues, unauffälliges Plakat auf den Stromkästen der Stadt die nächste Depeche-Mode-Party an. Ob in großen Berliner Hallen oder in der Landdisko hinter den sieben Bergen – es gibt wohl keine andere Band, für die ihre Fans hierzulande so viele Partys veranstalten, ganz ohne Konzert, neue Platte oder anderen Anlass. Es scheint, als hätte die Zahl dieser Partys stetig zugenommen, und sie werden wohl immer ähnlich ablaufen – mit Tauschbörsen, Videoleinwänden, Karaoke und ausschließlich Musik von Depeche Mode, und man wird sich weiter frisieren und kleiden wie seine Lieblinge, sich die neuesten Gerüchte verschwörerisch zuraunen und sich geborgen fühlen.

Die Geschichte eines der seltsamsten Pop-Phänomene der letzten zwanzig Jahre zu erzählen, hat sich der englische Musikjournalist Steve Malins vorgenommen. Es ist die erste gründliche und offizielle Biografie der Band, und obwohl sie klassisch chronologisch daherkommt und Malins kein Analytiker ist, gelingt ihm über geschickte Auswahl witziger Anekdoten und Zitate doch die Erzählung einer faszinierenden éducation sentimentale. Ganz am Anfang hielten viele Depeche Mode für eine Eintagsfliege und ein Hirngespinst von Daniel Miller. So begeistert war der von ihnen, dass er sein Label Mute gründete und sie mit aller Kraft protegierte. Er sah in ihnen die Inkarnation seiner alten Idee von einer Teenager-Popband, die einfache, melodiöse Popsongs mit modernster Technik verknüpfen sollte. Als jedoch Vince Clarke, Gründungsmitglied und Songschreiber, nach kurzer Zeit das Handtuch schmiss, wurde Depeche Mode einhellig ihr baldiges Ende prophezeit. Das Ergebnis: Vince Clarkes Projekte „Yazoo“ und „Erasure“ sind nur noch Erinnerung. Martin Gore aber lernte das Handwerk des Songwriting, und die Welt wartet inzwischen auf Depeche Modes zehntes Studioalbum. Depeche Mode sind nicht in derselben Versenkung verschwunden wie ihre einstigen Synthiepop-Kollegen Spandau Ballet, Duran Duran, Human League und Soft Cell, sondern heute noch eine der erfolgreichsten britischen Bands – zumindest im Ausland. Noch immer geht es zusammen, dass sich einerseits ihre Fans wie eine fest verschworene Gemeinschaft jenseits von Mainstream und Hype fühlen, während andererseits ihre Plattenverkäufe und Tourneen immer gigantischer geworden sind.

Dabei gelten sie wenig im eigenen Land, wo sie von ihrem Hinterwäldler-Image nie richtig losgekommen sind und immer noch als die zahmen, niedlichen und unheimlich uncoolen Teenies belächelt werden, als die sie 1980 angefangen haben. Ein Image, unter dem sie litten. Steve Malins beschreibt, wie Depeche Mode Ende der Achtzigerjahre in ihrem Kampf um Credibility immer tiefer in den Drogenexzess abrutschten. Der eine trank angeblich bis zu 67 Flaschen Bier am Abend, der andere erlitt permanent Nervenzusammenbrüche. Dave Gahan, anfangs mit seinen weißen Jeans und seinem feisten Babyspeck eher albern anzusehen, verwandelte sich in einen mageren Junkie. 1995, auf der letzten Tournee vor seinem Selbstmordversuch und dem folgenden Entzug, stürzte er sich des öfteren von der Bühne ins Publikum und biss backstage Journalisten in den Hals. Doch als viele an die baldige Auflösung glaubten, stiegen Depeche Mode wie Phoenix aus der Asche. Ihr Lebenswandel erlaubte ihnen die glaubhafte Entdeckung des Blues, und sie bewiesen, dass ihre stets gleich gebliebene Gefühlspalette auch mit akustischen Instrumenten und Rockakkorden berührt werden konnte. Die Gefahr, dass ihr technischer Erfindergeist Ende der Achtziger von Techno überholt werden könnte, war gebannt.

Depeche Mode haben immer Musik für die Mittelschicht gemacht und Sensibilisierung roher Körperlichkeit vorgezogen. Dabei stammt der Kern der Band aus Basildon, einem grauen Nest in der Nähe von London. Doch obwohl sie Arbeiterkinder waren, lasen sie gern Märchen, wurden religiös erzogen, sangen im Kirchenchor – und als Punk in Basildon Einzug hielt, hörten sie lieber die Beatles und die Eagles.

Zu Beginn ihrer Karriere fühlten sie sich noch inspiriert und zugleich abgestoßen durch den „kalten, exklusiven Glamour“ der ästhetizistischen Londoner Szene, vom Leben nach Punk mit Lidschatten und Rüschenhemden. Zusammen mit Daniel Miller, der zuvor in Düsseldorf Kunst studiert hatte und Fan von Kraftwerk, Can und Cabaret Voltaire war, legten sie das Fundament ihres Images: Sie standen für die Beseelung des kalten Maschinenmenschen, für die Aufladung urbanen Fortschrittsglaubens durch Melodie, Nostalgie, Religion und Reaktion.

Während der wilden Zeit der Band im klaustrophobischen Westberlin Mitte der Achtziger handelten Martin Gores Texte zunehmend von verlorenener Unschuld, von ekstatischen Verschmelzungsfantasien, Sehnsucht nach Entgrenzung, Besessenheit und Abhängigkeit. Sich selbst zu entblößen wurde Depeche Modes Grundsatz: Fortan gehören Nietengeschirr, Lack, Leder, Lippenstift, das ganze Repertoire des Crossdressing also zu den Accessoires der Band. Heilig sei die Leidenschaft: Das blasphemische Spiel von Depeche Mode mit Schuld und Sühne, einer schwülen, dekadenten Sadomaso-Bildersprache, mit katholischem Kitsch, dem verzückten Leiden – all das sakralisierte die Band, während sie trotzdem mitten im Mainstream stand.

Mit Depeche Mode war es immer ein Leichtes, die Wucht der Wirklichkeit abzuwehren: Das macht Malins deutlich, ohne dafür eine Erklärung zu finden. Depeche Mode helfen jungen Männern über die Verwirrungen der Vorpubertät hinweg, auch seit endlich Schluss mit niedlich ist. Ihr Erfolg im Osten vor und nach 1989 war und ist vor allem deshalb so groß, weil Depeche Mode immer ein prima Zaubermittel gegen Rationalismus und Pragmatismus boten, egal ob unterm Kommunismus oder im Kapitalismus. Nach der Wende wurden sie Teil einer modernen Patchwork-Religiosität, die auch den Westlern hilft, wenn es eine eigene, kleine Gegenwelt zu schaffen gilt. Es sind nicht nur die Technikverlierer, weiße Vorstadtkids und Provinzler, es sind auch einfach gelangweilte Leute, die es irgendwie anders haben wollen, aber nicht wissen wie, und die ihr Glück woanders suchen – und sei es durch den Zugang zu exklusiven Geheimnissen. Über die man sich dann austauscht, auf der nächsten Depeche-Mode-Party, hinter den sieben Bergen.

Steve Malins: „Depeche Mode. Die Biographie“. Hannibal 1999, 285 Seiten, 38 DM

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