Der Lottogeschichtenerzähler

Insider-Bericht über die erstaunliche Öffentlichkeitsarbeit der Gewinnspiellobby

Neulich kam ein Anruf von NordLotto aus Hannover. Ein Manfred Schwabe fragte an, ob ich mir eine Änderung meiner beruflichen Situation vorstellen könne. Er hätte da ein interessantes Angebot zu machen.

Tags drauf trafen wir uns im „Gasthaus Prinosil“. Schwabe sieht aus wie Hellmuth Karasek und spricht auch so. Er schätze meine „Schreibe“ sehr, sagte er so süffig, wie Karasek das sagen würde. Ich bestellte Menü eins. Hirschrücken an Wildpreiselbeeren. Er trank Bier. Beim Nachtisch eröffnete er mir dann, dass er seit 23 Jahren im Presse- und Informationsdienst von NordLotto angestellt sei, aber bald in Rente ginge. „Wollen Sie mein Nachfolger werden?“, fragte er. „Die zahlen gut.“ Wofür genau ich gut bezahlt würde, erfuhr ich eine Woche später beim Bewerbungsgespräch in Hannover. Anschließend hatte ich allerdings kein Interesse mehr an Schwabes Job.

Es ist nämlich so: Sämtliche Pressemitteilungen über die jeweiligen Lottogewinner der Woche sind samt und sonders erfunden. Denn tatsächlich gibt es diese Millionengewinner nicht: weder jenes Bremer Ehepaar, das „mit nur 10,80 Mark für einen Vollsystemschein“ den Jackpot geknackt hatte, noch die arbeitslose Näherin aus dem Saarland, die nach über 20 Jahren mit immer denselben, nämlich „den Geburtstagszahlen ihrer Familie“, endlich abräumte. Auch jene drei Kfz-Mechaniker, die ihren gemeinsamen 15-Millionen-Gewinn in ihre bankrotte Bude steckten, ihren bisherigen Chef einstellten, ansonsten aber weiterschrauben wie bisher, gibt es tatsächlich nicht. Sie und alle anderen Gewinner sind nichts als Erfindungen der Lotto-Informationsdienste. Selbiges gilt für die berühmten Lottopechvögel, also etwa jenen angeblichen Tropf, der ausgerechnet dann vergessen hatte, seinen Schein abzugeben, als seine Zahlen dran waren, oder diesen großen Unbekannten, der neulich in Berlin-Marzahn angeblich einen Millionengewinn verfallen ließ.

Sogar Lotto-Lothar, ein wegen seiner unbotmäßigen Prasserei vor kurzem durch die Presse gereichter Lottomillionär, war bloß eine, wenn auch geschickt inszenierte Erfindung. Ich selbst habe Lotto-Lothar, obwohl ja vor kurzem angeblich verstorben, während meines Aufenthalts bei NordLotto zufällig kennen gelernt. Er ist der Schwager meines Anwerbers Schwabe und lebt, seit seinem „Tod“ mit einer üppigen Lebensrente aus Lottogeldern ausgestattet, quietschvergnügt in seinem Reihenhaus bei Hannover.

Die erfundenen Gewinnergeschichten sollen natürlich vor allem eines: uns Lottospieler bei der Stange halten, auf dass wir weiterhin an den großen Gewinn glauben und jede Woche brav unseren Schein abgeben. „Dabei ist alles nur Reklame!“, lachte Schwabe. Da glaubte er noch, ich wäre sein Mann.

Das ganze Lottogewese um die hohen Jackpots, die effektivsten Wettsysteme samt den teils tragischen, teils komischen Gewinnergeschichten, entbehren damit jeder Realität. Wenn die bekannt würde, so Schwabe, liefen die Leute vermutlich Amok. Mehr sagte er dazu nicht, außer, dass er mich fragte: „Oder kennen Sie jemanden persönlich, der mal eine Million gewann“? Ich sagte, dass ich nicht mal einen persönlich kenne, der wiederum einen anderen persönlich kennt, von dem er sagen könnte, dass der einen nennenswerten Lottogewinn eingesackt hätte.

Der eigentliche Skandal an diesem Lottogeschichtentum ist aber, dass sich praktisch die gesamte deutsche Presse einspannen lässt, indem sie ständig diese Lottomärchen druckt, ohne je eines auf seinen Wahrheitsgehalt überprüft zu haben. Das – so lässt man sich da reichlich billig von den Lotto-Infodiensten abspeisen – gehe nun mal nicht. Es gelte schließlich, die Anonymität der Millionengewinner zu wahren. Sehr schlau.

Vielleicht hat jemand anderer mehr Lust beziehungsweise weniger Skrupel als ich, demnächst so schlau zu sein. Noch dürfte Manfred Schwabes Nachfolge vakant sein. Mir wurde immerhin eine Festanstellung angeboten für ein monatliches Schweigegeld von 7.500 Euro plus Dienstwagen. Bewerbungen an NordLotto in Hannover. FRITZ TIETZ

Hinweis:Beim Nachtisch eröffnete Herr Schwabe mir, dass er seit 23 Jahren im Presse- und Informationsdienst von NordLotto angestellt sei, aber bald in Rente ginge