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Die Kreuzberger Mai-Lüge

Nicht „massive Steinwürfe“ haben die Auseinandersetzungen am 1. Mai ausgelöst, sondern ein bereits vorher geplanter Polizeieinsatz. Dies geht aus internen Informationen der Polizei hervor

Die Ausschreitungen am Ende der „revolutionären“ 1.-Mai-Demo in Kreuzberg können Innensenator Eckart Werthebach (CDU) in Bedrängnis bringen. Gestern Mittag noch behauptete Werthebach, es gebe „keinen Zweifel, von wem die Gewalt ausging“. Als die Demonstration den Oranienplatz erreichte, sei eine „Kaskade von Steinwürfen“ auf die Polizeibeamten niedergegangen. Nach Informationen der taz wurden die Auseinandersetzungen allerdings durch einen Polizeieinsatz ausgelöst, der bereits vor dem Ende der Demo geplant wurde (siehe Dokumentation).

Ziel des Einsatzes war offenbar die Spitze des Demonstrationszuges. Nach Polizeiangaben habe sich dort eine Person befunden, die mit einem Scanner widerrechtlich den Polizeifunk abgehört habe. Eine Festnahme dieser Person während der Demonstration wurde von der Einsatzleitung der Polizei allerdings kategorisch abgelehnt. Stattdessen wurde die Parole ausgegeben, diese Festnahme sowie andere ausdrücklich erst nach Eintreffen der Demo am Oranienplatz vorzunehmen. Nicht „massive Steinwürfe“ waren also offenbar der Auslöser für die stundenlangen Straßenschlachten, sondern ein geplanter Festnahmeeinsatz.

Nach Informationen der taz soll dieser Einsatz äußerst dilettantisch erfolgt sein. So kam es gar nicht zu den geplanten Festnahmen. Stattdessen musste die mit dem Einsatz beauftragte Polizeieinheit bereits wenige Minuten später Verstärkung anfordern, weil sie die Situation offenbar nicht mehr im Griff hatte. Andere Einheiten waren inzwischen von den Demonstranten eingekesselt worden.

Bis zu diesem Zeitpunkt war auch die Polizei von einer vergleichsweise friedlichen „revolutionären“ Demo ausgegangen. So seien lediglich an der Spitze des Zuges etwa 200 so genannte „relevante“ Personen marschiert. Der größte Teil der Teilnehmer habe zu friedlichen „Kiezgängern“ gehört. Zwar habe es immer wieder vereinzelte Steinwürfe gegeben. Diese jedoch waren für die Polizei kein Anlass, „Zugriffe in den Aufzug zu tätigen“.

Ein Polizeisprecher konnte gestern die Authentizität der taz-Informationen nicht bestätigen. Jedoch sei es nicht ungewöhnlich, mit einer Festnahme bis zum Ende eines Aufzuges zu warten. Zu dem konkreten Vorfall ließe sich noch nichts sagen.

Unterdessen erklärte Landesschutzpolizeidirektor Gernot Piestert, die Polizeibeamten hätten bewusst nicht in den Aufzug eingegriffen. „Wir haben aus den Erfahrungen von 1999 gelernt“, so Piestert. Damals hatte sich ein Schlagstockeinsatz am Kottbusser Damm als der zündende Funke erwiesen.

Die Antifaschistische Aktion Berlin, die den Aufzug mit organisiert hatte, bezeichnete das Vorgehen der Polizei gestern als „völlig überzogen“. Zu den Ausschreitungen sei es erst gekommen, als Polizei-Einheiten die Demospitze auf dem Oranienplatz „gezielt angegriffen“ hätten. Diese Einschätzung vertrat auch das Komitee für Grundrechte und Demokratie, dem unter anderem der FU-Professor Wolf-Dieter Narr angehört. Um 20.35 Uhr hätten zwei Hundertschaften die Gruppe um den Lautsprecherwagen von dem Rest der Demonstration getrennt. Erst in diesem Moment habe es Stein- und Flaschenwürfe gegeben. Der Polizeieinsatz sei darauf angelegt gewesen, Ausschreitungen zu provozieren, „um damit zukünftige Einschnitte in das Demonstrationsrecht zu rechtfertigen“. taz

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