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Mission: Impossible

Schuld und Sühne forever. Diesmal macht Martin Scorsese einen Sanitäter zum Märtyrer: Sein Film „Bringing Out The Dead“ mixt Amerika-Kommentar und schwarze Komödie

von KATJA NICODEMUS

Ob sie besessen Saxofon spielen, ihre kriminelle Parzelle kontrollieren oder die Menschheit retten wollen – Scorseses Kino ist immer auch eines der Übermänner. Da wären die Könige der Unterwelt, die Mafiabosse und kleinen Größen von Little Italy. Und die anderen, die sich zu Höherem berufen fühlen, die Heilsbringer, Getriebenen, Besessenen ihrer Berufung und ihres Berufes. „You get the job, you become the job“, sagt jemand zu Travis Bickle, wenn er mit dem Schlüssel fürs Taxi sein Schicksal in Empfang nimmt.

Frank Pierce (Nicolas Cage), der in Scorceses neuem Werk im Krankenwagen durch ein fantasmagorisches nächtliches New York braust, fällt in die zweite Kategorie. Auch er versteht seinen Job als Mission, als metaphysisch überformten Auftrag, den er im melancholisch-elegischen voice-over bis zur Selbstherrlichkeit zelebriert. Ein Sanitäter, der sich im ganz emphatischen Sinn als Retter versteht, als Herr über Leben und Tod. Gleich zu Beginn holt Frank eine tote Seele aus dem Jenseits zurück.

Nach „Taxi Driver“, „Die letzte Versuchung Christi“ und „Raging Bull“ lässt das calvinistisch-katholische Duo Schrader/Scorsese mit „Bringing Out The Dead“ wieder einmal den theologischen Überbau in Gestalt einer zutiefst weltlichen Figur auf die Menschheit los. Neu ist die ikonografische Eindeutigkeit, mit der Scorsese Schraders Script beziehungsweise Joe Conellys autobiografischen Roman in Szene setzt. New York ist eine Vorhölle, bevölkert von Zombies, Krüppeln, Verrückten und armen Teufeln. Mittendrin die Lichtgestalt des hohlwangigen Retters in Weiß, der im Laufe des Films immer durchsichtiger und vergeistigter wird. In einem Drogentraum wandelt Frank Pierce sogar direkt auf Jesu Spuren, wenn er wie in einem Renaissancegemälde die Versehrten und Aussätzigen aus ihren Löchern zieht. Neu ist auch, dass an jeder Ecke Marien- und wahrhaftige Jesusfiguren lauern. Crackhead Noel, der glaubt, dass er aus der Wüste kommt, ein afroamerikanischer Sanitäterkollege, der in einer Gruftie-Disco die Wiederauferstehung inszeniert, oder ein Dealer, der wie der Heiland aufgespießt wird, an einer Wolkenkratzerbrüstung – gerettet wiederum von Pierce (noch einem Durchbohrten, gute Güte!).

Angesichts der religiös aufgeladenen Bilder und Namen (es gibt sogar eine Maria, die wie die Jungfrau zum Kinde kommt) stellt sich die Frage, ob Scorsese die zwischen konkretem Gesellschaftskommentar und christlicher Weltbefragung oszillierende Offenheit seiner früheren Filme verlässt oder in einer metaphysischen Sackgasse verschwindet.

Robert De Niros aus dem Vietnamkrieg heimgekehrter Taxidriver wurde zum wandelnden Kommentar auf ein gewalttätiges, abgefucktes Amerika und einen Albtraum namens New York. War das Umherstreifen im amerikanischen Kino bis in die Siebzigerjahre noch Synonym mit einer inneren und äußeren Erneuerung bzw. Initiation, so geriet es hier zur autistischen Bewegung im Kreis. Zu den Gestalten, die er im Rückspiegel sieht, hat Bickle bis auf seine Paranoia keinerlei Beziehung.

Ganz anders der sorgenvolle Blick, mit dem Pierce alle New Yorker zu potenziellen Patienten macht. In den Halluzinationen des chronisch übermüdeten Sanitäters verschmelzen die Passanten mit dem Gesicht eines lateinamerikanischen Mädchens, das durch sein Fehlverhalten umkam. Vielleicht sind wir auch in Scorseses neuem Film mitten in einem Amerika-Kommentar: „Bringing Out The Dead“ als Erlösungs- und Errettungsfantasie einer selbstgerechten Nation, die sich als Weltsanitäter aufspielt. Eine Großmannssucht, die mit Jimi Hendrix’ „Bell Boy“ oder Motowns „Nowhere to run“ zum Rettungsrausch hochgetuned wird.

In dieser religiös überfrachteten und überdrehten Bilderwelt (sogar in der Pizza stecken Heiligenbildchen) hat sich der dekonstruktivistische Blick des New American Cinema erhalten. Beispielsweise erinnert die sarkastische Stimmung in der hoffnungslos überfüllten und verschmuddelten Notaufnahme und die durchgeknallte Partylaune im Cockpit des Krankenwagens an Robert Altmans Antikriegsgroteske „M.A.S.H.“. So wie Altmans zotenreißende Ärzte die Soldaten mehr schlecht als recht zusammenmetzgern, um sie wieder in den Koreakrieg zu schicken, bleibt auch Scorseses Behandlung im wahrsten Sinne des Wortes eine ambulante.

Schwarze Komödie und neuzeitliches Jesusdrama – „Bringing Out The Dead“ funktioniert auf beiden Ebenen, deshalb kann diese Kreisfahrt auch mit einer Erlösung enden. Eine Erneuerung, auch für Scorseses Kino. Denn am Ende kommt es tatsächlich zu einer Kreuzabnahme und zur ersten wirklichen Berührung zwischen Mann und Frau in einem Scorsese-Film. Mit einem ganz lapidaren Satz befreit Mary (Patricia Arquette), die Tochter eines Komapatienten, den Ruhelosen von seinem Büßersyndrom. Weißliches Licht und ein fast fotografischer Moment mit der Aura eines Heiligenbildes. Soll er den schönen Augenblick, in dem die beiden sich in den Armen liegen, doch feiern! In Gottes Namen.

„Bringing Out The Dead“. Regie: Martin Scorsese. Mit: Nicolas Cage, Patricia Arquette u. a. USA 1999, 121 Min.

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