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Der Poet, der zuschlagen konnte

Keiner kommt hier lebend raus: Vor achtzehn Jahren starb der Rockkritiker Lester Bangs. Ein Witzbold, Trinker und Drogenkopf, der den Rock ’n’ Roll einfach so lebte, wie sonst nur einige der Musiker, mit denen er Umgang pflegtevon MARTIN PESCH

Am Vormittag des 30. April 1982 liefert Lester Bangs das Manuskript seines Buches „Rock Gommorrah“ bei seinem Verlag ab. Danach besucht er einen Freund, führt von einer Telefonzelle aus einige Gespräche und geht dann in sein Apartment in Manhattan. Im Hausflur hat er eine kurze Begegnung mit seinem Nachbarn. Der hört, wie hunderte Male zuvor, wie Bangs die Tür schließt und sich auf seine Couch fallen lässt. Am Abend liegt Bangs noch immer dort, eine Freundin findet ihn – er ist tot. Auf dem Plattenspieler dreht sich „Dare“ von The Human League, die Nadel hängt noch in der Auslaufrille. Die Platte hatte er, der die Telefonrechnung nicht mehr bezahlen konnte, am Nachmittag aus zweiter Hand erstanden.

Das ist nun nicht gerade das Ende für jemanden, der keine Fadeouts mochte. Jahre später schmiedet Michael Stipe die folgenden Verse für den R.E.M.-Hit „It's the end of the world as we know it“: „Leonard Bernstein, Leonid Brezhnev, Lenny Bruce, and Lester Bangs/birthday party, cheesecake, jelly beans, boom!“ Bangs reimt sich zwar nicht auf „boom“, meint aber dasselbe. Lester Bangs entsprach – nomen est omen – seinem Namen, und er hat es sich sicher gewünscht, so unbescheiden war er, wenn es bei seinem Tod „boom“ gemacht hätte. Aber als er mit 33 Jahren starb, schien die Luft schon etwas länger raus gewesen zu sein. Ein Witzbold, Trinker und Drogenkopf vor dem Herrn, schlich er die letzten Jahre recht einsam durch die New Yorker Straßen, und die Anonymen Alkoholiker waren sein letzter, einigermaßen stabiler sozialer Strohhalm. Kein Rock 'n' Roll, nirgends; deswegen muss man die Tatsache, dass er zu seiner Todesstunde ein Album einer nüchternen englischen Retortenband auflegte, als bitteren Kommentar erkennen. Bangs, der Rock 'n' Roll lebte wie sonst nur einige Musiker, die er achtete, hatte hier nichts mehr verloren.

Das Manuskript wurde nie veröffentlicht

Der Rockkritiker – neben Nick Cohn und Greil Marcus der einzige von internationaler Bedeutung – hatte in seinen letzten Jahren Fanbücher über Blondie und Rod Stewart geschrieben, um zu überleben und die Buchprojekte voranzutreiben, an denen sein Herz hing. Das Manuskript, das er an seinem Todestag abgab, wurde nicht veröffentlicht; sein Roman „All my friends are hermits“ blieb genauso Fragment wie eine Sammlung von Aufsätzen. Marcus, der 1987 eine Auswahl der Texte von Bangs herausgab, zählt in seinem Vorwort gut zehn weitere Buchtitel auf, an denen Bangs teilweise seit den Sechzigerjahren gearbeitet hat. Daraus ist der Mythos entstanden, Bangs, der Kerouac, Ginsberg und Bukowski verehrte, sei ein großer amerikanischer Schriftsteller gewesen, der zufällig über Rock geschrieben hätte. Sosehr sich Bangs bemühte, den kreativen und finanziellen Fallen des Rockjournalismus zu entkommen und als „richtiger“ Schriftsteller anerkannt zu werden, so eng ist sein Schreiben doch mit der Musik verbunden. In seinen besten Texten war es wie sie. „Er hatte dieses magische Ding mit Worten“, sagte Nick Cohn, „er war ein Poet.“ Das war er. Aber einer, der zuschlagen konnte: Sein Debüt war ein harscher Verriss des MC 5-Albums „Kick out the Jams“. Er war vom damaligen Hype um die Band angeekelt und setzte zum Gegenschlag an.

Ich frage mich oft, wie es mir ergangen wäre, hätte ich bestimmte Schallplatten zu dem Zeitpunkt erlebt, an dem sie erschienen sind. Also Charles Mingus' „Oh Yeah“ schon 1962 und nicht fast vierzig Jahre später als Teil eines monströsen CD-Sixpacks mitsamt sämtlichen Outtakes und gelehrten Abhandlungen. Oder Van Morrisons „Astral Weeks“ im Jahr 1968 und nicht zwanzig Jahre später als LP der Reihe „Das Rockarchiv“. Oder „Metal Machine Music“ von Lou Reed Mitte der Siebziger als Doppel-LP und nicht als Nice-Price-CD ohne die Linernotes, gekauft vor zwei Wochen im Berliner Kulturkaufhaus Dussmann. Was hätte ich gedacht und vor allem, wie hätte sich das angefühlt, so ohne die Klassikerpatina? Wäre ich so begeistert oder erschrocken gewesen wie Lester Bangs, ein Fan dieser drei Musiker? Und was hätte ich von seinen Rezensionen und Features gehalten? Wahrscheinlich wäre er mir auf den Keks gegangen mit seinen ewigen Intros, launigen Abschweifungen und Urteilen, die zwar entweder vernichtend oder verherrlichend sind, aber durch einen kurzen Nachsatz so aus den Angeln gehoben werden, dass man am Ende doch nicht weiß, ob er die Platten gut fand oder nicht. Zum Beispiel deklarierte er „Metal Machine Music“ zum „greatest album ever made“ – was soll man aber von einem solchen Jubel halten, wenn seiner Meinung nach auf dem zweiten Platz „Kiss Alive!“ folgt?

1973 kam Bangs bei der Zeitschrift „Creem“ unter

In der Zeit meiner Kritikertätigkeit ist die Zeilenanzahl pro Schallplatte um gut zwanzig Prozent gesunken (empirische Erhebung in meinem Privatarchiv) – nach drei Sätzen soll die/der LeserIn schließlich wissen, ob sich die dreißig Mark lohnen. Am liebsten sind natürlich inzwischen auf den ersten Blick erkennbare Punktwertungen. Dahinter stecken nicht nur Layoutreformen oder die schiere Masse an Neuerscheinungen, in der sich angeblich niemand mehr zurechtfinden kann. Die Bedeutung des musikkritischen Wortes sinkt generell. Dass sich heute der Chef einer Major-Firma bei einem Redakteur über eine Besprechung beschwert, ist undenkbar. Als Lester Bangs für den Rolling Stone schrieb, riefen die Vorsitzenden von RCA oder Electra ständig an – so lange, bis Bangs aus dem Mitarbeiterkreis verbannt wurde.

Das war 1973. Und es war ihm egal. Denn er hatte bei der Zeitschrift Creem Unterschlupf gefunden. Das Magazin kam aus dem White-Panther-Zirkel in Detroit und wurde jahrelang von einer Art Kommune gemacht. Als Bangs eine Plattenkritik des Stooges-Album „Funhouse“ einschickte, war er sicher, dass sie abgelehnt würde. Sie war wieder mal viel zu lang geraten. Als die Redaktion den Text trotzdem druckte – in zwei aufeinander folgenden Ausgaben! –, wusste er: Hier bin ich richtig. Kurz darauf zog er von El Cajon im sonnigen Arizona, wo er mit seiner Mutter, einer beinharten Zeugin Jehovas, lebte, in den kalten Mittelwesten und wurde Creem-Redakteur.

Aus der New Yorker Zeit der späten Siebziger stammt ein Foto, auf dem Patti Smith und Lou Reed zu sehen sind. Sie gähnt, er reibt sich das Kinn. Neben ihnen auf dem Matratzenlager liegt bequem Lester Bangs, die Hände auf dem Bauch gefaltet. Er schaut gedankenverloren in die Luft. Hier ist er ganz an seinem Platz, seine Helden in der Nähe, im Kopf schon die richtige Formulierung. Sein Schreiben ist ohne diese Distanzlosigkeit nicht denkbar und resultierte aus der Gewissheit, dass es sinnlos wäre, würde man nicht mit Haut und Haaren dazugehören. Deswegen kämpfte er sich Zeit seines Lebens an den Image-Winkelzügen eines Lou Reed ab; deswegen war er geschockt vom bewussten Umgang der englischen Punkband The Clash mit ihrer öffentlichen Wirkung und ließ eine Reportage über sie – selbstredend der längste Text, der je im New Musical Express abgedruckt wurde – in der götterdämmerungsartigen Anrufung verloren geglaubter Ideale enden.

In einem Interview kurz vor seinem Tod sagte er, dass er ständig mit voller Inbrunst seine Meinung geändert habe. Seinen Verissen von „Kick out the Jams“, „Radio Euthopia“ und „Exile on Main Street“ ließ er Elogen folgen. Jim DeRogatis, der dieses Interview führte, hat jetzt eine respektvolle Biografie verfasst, die Bangs' Leben von der Wiege bis zum Grab auffächert. Dabei kommt der Autor nie in die Nähe eines kumpelhaften Schulterklopfens der Leute, die Bangs für eine gute Partybegleitung hielten und nicht sahen, dass diese Party namens Rock 'n' Roll für ihn das Leben war. Hier sind viele Szenen nachgezeichnet, in denen Bangs, sein Leben, seine Arbeit und die Musik wie unter dem Brennglas erscheinen.

Das hier ist eine: Seine Zimmernachbarn in der Creem-Kommune fanden ihren Kollegen öfters unter dem Tisch liegend, neben ihm eine leere Flasche Schnaps. Auf dem Plattenteller dreht sich „Master of Reality“ von Black Sabbath. Die Lautstärke des Kopfhörers, den Bangs auf hat, ist so groß, dass sie davon aufgewacht sind. Bangs selbst ist in süßen Schlummer gesunken.

Jim DeRogatis: „Let it blurt: The Life and Times of Lester Bangs“. Bantam Doubleday, New York 2000, Paperback, 256 S., 15,95 $

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