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Viele kleine Blaue für den Titel

Die Nebenklägerinnen, die als minderjährige DDR-Athletinnen gedopt wurden, erwarten von den ehemaligen Funktionären ein Zeichen von Reueaus Berlin MARKUS VÖLKER

Angeklagt ist Manfred Ewald, 73 Jahre alt, Ex-Präsident des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) der DDR. Angeklagt ist auch Manfred Höppner (65), der ehemalige Obermedizinalrat Dr. Höppner, stellvertetender Vorsitzender des Sportmedizinischen Dienstes (SMD) und Chef der „Arbeitsgruppe unterstützende Mittel“. Beide müssen sich seit gestern vor dem Berliner Landgericht dafür verantworten, minderjährige Sportler gedopt zu haben, ohne die jungen Athleten über die Verabreichung der pharmazeutischen Mittel und deren Nebenwirkungen aufgeklärt zu haben. Ewald und Höppner wird Beihilfe zur Körperverletzung in 142 Fällen zur Last gelegt.

Nach gut zweieinhalb Stunden Verhandlungsdauer wurde der Prozess unterbrochen, als ein Anwalt von 15 Nebenklägerinnen Akteneinsicht beantragte. Ewalds Anwalt Frank Osterloh erklärte, sein Mandant werde „vorerst nicht“ Stellung nehmen. Höppner wird dagegen am Freitag, dem nächsten Verhandlungstag, eine Einlassung abgeben.

Äußerlich unbewegt verfolgte Manfred Ewald die Verlesung der Anklageschrift. Lediglich bei der Nennung von Namen früherer DDR-Renommierklubs wie TSC oder Dynamo Berlin und Kürzeln einschlägiger DDR-Sportinstitutionen regte er sich – grinsend. Oberstaatsanwalt Klaus-Heinrich Debes gab an, die Höchststrafe in diesen Fällen betrage viereinhalb Jahre. Wahrscheinlich aber ist eine Haftstrafe auf Bewährung.

Bei der Verhandlung anwesend waren die Nebenklägerinnen, die Strafantrag in 35 Fällen gestellt haben. Bei ihnen war es nach der Vergabe von männlichen Hormonen zu übermäßiger Körperbehaarung, Stimmvertiefung, Rückbildung der Brüste und körperlichen Langzeitschädigungen gekommen. Kinder der Leistungssportlerinnen wurden verkrüppelt geboren. Bei anderen bildeten sich Krebsgeschwüre in Leber und Unterleib. Obwohl diese Nebenwirkungen auch zu DDR-Zeiten schon bekannt waren, wurden schon Dreizehnjährige mit Eintritt in die Kinder- und Jugendsportschulen (KJS) ohne deren Wissen gedopt.

Nebenklägerin Rica Reinisch, eine ehemalige Schwimmerin, sagte vor der Verhandlung: „Ich empfinde keine Wut mehr. Aber abgehakt ist die Sache für mich noch lange nicht.“ Von Ewald erhoffe sie sich ein Zeichen von Reue. Sie rechne aber mit dessen „Sturheit“. Nach der Verhandlung erzürnte sie sich, dass bei Ewald kein Anzeichen einer menschlichen Regung zu erkennen gewesen sei. Der Mediziner und Dopinggegner Werner Franke sagte, er erwarte, dass der Prozess „Ehrlichkeit und Klarheit“ erbringe. Er bezeichnete das Vorgehen der Staatsanwaltschaft angesichts der Schwere der Taten als nicht angemessen. Diese hatte ursprünglich nur einen Verhandlungstag eingeräumt. Ex-Schwimmerin Karen König sagte: „Ich will keine Genugtuung. Aber da die Strafen eh nicht hoch ausfallen werden, erwarte ich mir eine Entschuldigung – eine ehrliche.“

Die juristische Aufarbeitung der DDR-Dopingvergangenheit erreicht mit dem Prozess ihren Höhepunkt. Etwa 1.000 Personen gerieten bisher in die Ermittlungen der Berliner Staatsanwaltschaft. Auf der Anklagebank aber saßen nur wenige. Viele Verfahren wurden aus Mangel an Beweisen oder wegen geringer Schuld eingestellt. Die bislang höchsten Strafen erhielten der frühere Vizepräsident des DTSB, Horst Röder, und der ehemalige Verbandsarzt der Schwimmer, Lothar Kipke. Wegen Dopens Minderjähriger wurde Kipke zu einer fünfzehnmonatigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt, Röder zu einem Jahr. Nach Zahlung einer Geldbuße (zwischen 3.000 und 45.000 Mark) wurden die anderen Verfahren eingestellt.

Beim Prozess gegen Ewald und Höppner ist Eile geboten.Die Justiz steht unter Zeitdruck, weil im Oktober so genanntes mittelschweres DDR-Unrecht verjährt. Sollte bis zum 2. Oktober nicht ein erstinstanzliches Urteil gefällt sein, sind die Taten wegen der absoluten Verjährungsfrist nicht mehr zu ahnden. Zudem ist Ewald nur bedingt verhandlungsfähig.

Im Dopingplansystem der DDR wurde die Individualität und der Schutz des Einzelnen geopfert, um mit vorderen Plätzen bei internationalen Sportveranstaltungen die Überlegenheit des Systems zu dokumentieren. In Ewalds Ära gewann die DDR bei Olympia 197 Goldmedaillen, 178 silberne und 167 bronzene. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde eine Reihe „unterstützender Mittel“ ersonnen. Es bestand ein geschlossener Kreislauf zwischen Partei- und Sportfunktionären, Ärzten, Wissenschaftlern, Trainern und den pharmazeutischen Werken Germed – und auch Athleten, die mit anabolikagestählten Muskeln zu den Wettkämpfen auszogen und dekoriert zurückkehrten. Die Überlegenheit leitete sich vor allem aus Anabolika her: vor allem Oral-Turanibol und Testosteron.

Das Know-how zirkulierte bestens. Die administrative Arbeit leistete der DTSB, Forschung betrieben die Akademie der Wissenschaften (AdW), hier vor allem das Zentralinstitut für Mikrobiologie und Experimentelle Therapie (ZIMET), das Leipziger Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) sowie Germed- und Universitätsinstitute. Über Höppners Sportmedizinischen Dienst und willfährige Trainer wurden an Leistungszentren Sportler mit den unerlaubten Mitteln vertraut gemacht, nicht immer freiwillig, wie es die Schilderung der DDR-Schwimmerin und Nebenklägerin Martina Gottschalt belegt. Sie erinnert sich, dass ihr blaue Pillen mit Tee verabreicht wurden, drei Mal täglich und mit dem Kommentar, bei den Tabletten handele es sich nur um Vitamine. Gottschalt hat 1985 ein Baby mit verkrüppelten Füßen geboren und leidet unter Gallenproblemen und Schmerzen im Unterleib.

Im Gegensatz zu Ewald, der in seinem 1995 erschienenen Buch mit dem Titel „Ich war der Sport“ behauptet, nichts gewusst zu haben („Es stellt sich heute heraus, dass der Dopingmissbrauch im DDR-Sport verbreiteter war, als unsere Leitung wusste“), gab sich Höppner in der Vergangenheit partiell einsichtig und sagte im Polizeiverhör zu den Dopingpraktiken aus. Ewald dagegen mauert. Interviews gibt er nur, wenn sie ihm nutzen. Wenn doch, sagt er zum Beispiel: „Doping hat es im DDR-Sport nicht gegeben, jedenfalls haben wir derartiges niemals angeordnet und es nicht zugelassen.“ Oder: „Es ist nicht wahr, dass es flächendeckendes Doping gegeben hat.“

Doping in der DDR reichte immerhin so weit, dass die Tinkturen selbst bei Erich Honecker im Medizinschrank standen. Anabole Steroide soll der Staatsratsvorsitzende der Sozialistischen Einheitspartei aus Gründen der Potenzsteigerung gerne genommen haben.

Hinweis:Drei Mal täglich blaue Pillen. Die Folge: Gallenprobleme, Schmerzen im Unterleib und ein Baby mit verkrüppelten Füßen

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