: Bloß weg in den Westen
Brandsätze? Der Sozialamtsleiter: So etwas kommt vor. Die jüdische Lehrerin: Der nächste trifft mein Wohnheim
aus Erfurt ASTRID GEISLER
Hinter dem Schreibtisch von Ludmila Pevsner hängt ein jüdischer Kalender. Diesen Monat zeigt er zwei fröhliche Grundschulmädchen. Sie teilen sich einen Stapel Matzen. Doch wenn Ludmila Pevsner von ihrem Arbeitsplatz aus nach vorn blickt, sieht die Sozialarbeiterin anderes.
Das Gesicht der eleganten Dame in rotem Kostüm zum Beispiel. Zuckende Mundwinkel. Eigentlich wollte die 44-jährige Elektroingenieurin nur rasch zu Ludmila Pevsner ins Sozialbüro der Jüdischen Gemeinde in Erfurt kommen, um sich zu verabschieden. Doch dann fragte die Sozialarbeiterin: „Was sagst du zu dem Anschlag?“ Was für eine Frage! Die Besucherin schüttelt den Kopf. Keine Worte. Gerade hat sie zum ersten Mal die Spuren im Vorgarten der Synagoge gesehen. Sie streckt ihre Hände vor: Sie zittern. In den nächsten Tagen wird die Dame nach München ziehen. Sie hofft, dass Juden in Bayern sicherer leben.
Weg in den Westen. Diesen Wunsch hört Ludmila Pevsner oft in letzter Zeit. Sie lächelt entschuldigend. „Wir haben so eine sensible Wahrnehmung. Das gehört dazu, zum Jude-Sein.“ Vermitteln, erklären, beschwichtigen. Seit neun Jahren leitet Ludmila Pevsner das Sozialbüro: ein kleines, dunkles Zimmer mit einfachem Mobiliar, elektrischer Schreibmaschine, Telefon. Auf dem Flur warten ältere Gemeindemitglieder auf eine Beratung. Alle sprechen Russisch. Von den 550 Mitgliedern der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen sind 97 Prozent Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion. Auch Ludmila Pevsner, 53. Sie stammt aus Moskau. „Frau Doktor“, stellt die Sekretärin vor. Früher hat Ludmila Pevsner den Lehrstuhl für Deutsche Grammatik an der Moskauer Universität geleitet. Jetzt hilft sie jüdischen Emigranten bei Behördengängen, schreibt Bewerbungen, sucht Ärzte.
Der Weg zu ihrem Büro an der Rückseite der spitzgiebeligen Synagoge hat sich seit dem 20. April verändert. Er führt nun vorbei an drei Eimern mit welkenden Blumen und Lachen von getrocknetem Kerzenwachs auf dem Gehsteig, hinweg über Kreidezeichen der Spurensicherung auf den Wegplatten im Vorgarten. Hier landete das Bekennerschreiben der Rechtsextremisten und ein Molotowcocktail, der die Synagoge in Asche legen sollte. Das war Erfurter Nazis 1938 am gleichen Ort schon einmal gelungen. Zwei Frauen leben noch, die damals sahen, wie Mitbürger den stolzen Kuppelbau plünderten und niederbrannten. Sie, die Juden, mussten danach das Benzin bezahlen. Über die Erinnerung sprechen die alten Frauen nicht.
„Nach der Wende kamen unsere Leute mit der Hoffnung auf ein neues Deutschland“, sagt Ludmila Pevsner. So wie sie selbst. Zu DDR-Zeiten hatte sie in Erfurt einen Deutschkurs besucht und Kontakte zur Jüdischen Gemeinde geknüpft. Die zählte damals keine 30 Mitglieder. Als die letzte DDR-Regierung im Sommer 1990 beschloss, Juden aus der ehemaligen Sowjetunion die Auswanderung nach Deutschland zu ermöglichen, rief die Moskauer Germanistin den Leiter der jüdischen Gemeinde an: „Soll ich zu euch kommen oder nach Israel gehen?“ Sie zog nach Erfurt.
Und das schien die richtige Entscheidung. „Erfurt ist meine Heimatstadt geworden“, sagt sie. Ihr Mann arbeitet bei der Telekom. Die Tochter studierte Medizin. Anfang der Neunzigerjahre habe sie noch gern in der Stadt erzählt, dass sie, Ludmila Pevsner, Jüdin ist. Doch von der schönen Zeit in der Bundesrepublik spricht die Germanistin heute im Perfekt: „Wir haben uns sehr gut gefühlt hier.“ Haben. Die Tochter überlegt, nach Kanada auszuwandern. Und Ludmila Pevsner sagt neuerdings: „Wir können auch weiterziehen. Wir sind schon einmal aufgebrochen.“
„Alleingelassen“, fühlten sich viele jüdische Emigranten in Erfurt, sagt Ludmila Pevsner. Dabei, die Sozialarbeiterin muss nur einige Lamellen der Jalousie vor ihrem Bürofenster beiseite schieben. Dann sieht sie einen Plattenbau auf der anderen Straßenseite: zehn Stockwerke rosagrau gestreift, Fenster, Balkons, viele Sozialwohnungen, hunderte Nachbarn also. Der Synagogenneubau von 1951 steht am Rande der Altstadt, direkt an einer Hauptverkehrsader. Zu beiden Seiten haben Städteplaner noch in DDR-Zeiten lange Wohnblockschlangen hochgezogen. Ludmila Pevsner zeigt aus dem Fenster auf das Nachbarhaus: „Die haben noch nichts gesagt.“
Das wird sich wohl kaum ändern. Nebenan, im Plattenbau Juri-Gagarin-Ring 18, ist die Befindlichkeit der Jüdischen Gemeinde kein großes Thema. Sie komme nicht mehr oft raus und habe deshalb „gar nichts mitgekriegt“ von dem Anschlag, sagt ein gebücktes Mütterchen. Über die Gemeinde wisse man ja ohnehin überhaupt nichts. Ist doch vorbei, meint eine andere Nachbarin. Die Demonstranten, die nach dem Anschlag spontan eine Menschenkette um die Synagoge schlossen, seien weg, alles wieder ruhig. Und überhaupt: Irgendwann früher sei sie mal auf ein Mitglied der Jüdischen Gemeinde zugegangen. Diese Person habe ganz abweisend reagiert. Da habe sie es lieber nicht mehr versucht.
Bei Ludmila Pevsner klingt das anders: „Wir Juden sind unerwünscht in Thüringen“, sagen die Emigranten in ihrer Sprechstunde. Und seit dem 20. April weiß die Sozialarbeiterin nicht mehr, ob sie die Leute, die in ihre Sprechstunde kommen, weiter beruhigen soll. Denn der Anschlag, sagt sie, war „Ausdruck der allgemeinen Stimmung“. Zu dieser allgemeinen Stimmung gehört, dass viele Emigranten den Vermerk „jüdisch“ nicht mehr in ihrer Lohnsteuerkarte stehen haben wollen. Ludmila Pevsner hat ihrem Enkelkind verboten, in der Straßenbahn Russisch zu sprechen. Im Winter hat sie erstmals wieder gehört, dass ein Erfurter Gymnasiast als Jude ausgelacht wurde: „Zeig, ob du beschnitten bist!“, hätten die anderen Kinder gerufen. Weder Direktor noch Lehrer erfuhren davon. Die Eltern des 15-Jährigen halten den Vorfall geheim. Aus Angst.
Es war die Walser-Rede, die „ein Ventil aufgemacht“ hat, glaubt Ludmila Pevsners Kollegin im Sozialbüro. „Jetzt geniert man sich nicht mehr. Die Leute wissen: Jetzt dürfen wir’s.“
Igor Cherman, 61, merkt jeden Tag beim Aufwachen, warum Erfurt ihm bis heute keine Heimat geworden ist. Der Ingenieur aus Sankt Petersburg lebt im Übergangswohnheim, in einem Zweibettzimmer, seit drei Jahren. Galant, jugendlich, trotz grauen Vollbarts. Unser Intellektueller, sagen Bekannte aus der Gemeinde, ein Dichter. Manchmal trägt er bei Veranstaltungen eigene Werke vor. Für sein Leben in Erfurt braucht Cherman den Klageton. Keine Wohnung, keine Arbeit, kaum Perspektiven.
„Worte wie ‚Ghettoisierung‘ fallen“, berichtet Irina Krause vom Ausländerbeirat der Stadt, die sich seit Monaten für die jüdischen Kontingentflüchtlinge in den Übergangswohnheimen einsetzt. „Manche fragen sich, ob es Absicht war, die Juden hier zusammenzukriegen, damit sie krepieren in diesen Wohnverhältnissen.“ Seit dem Anschlag auf die Synagoge fragen die Heimbewohner, wo jüdische Emigranten ohne eigene Wohnung noch Schutz suchen sollen. Eine junge Lehrerin fürchtet, dass der nächste Brandsatz der Rechtsextremisten ihr Wohnheim trifft. Ihren Namen will sie nicht sagen.
„Diese Anschläge kommen halt von Zeit zu Zeit vor“, sagt Guido Kläser (42), seit 1998 Leiter des Erfurter Sozialamts. „Ich seh da kein judenspezifisches Problem. Das wär der Sache zu viel beigemessen.“ Die Neonazis hätten ja auch den Erfurter Dom beschmiert, und der sei „schließlich das größte Wahrzeichen in der Stadt“.
In seinem Computer hat der Jurist aus dem Saarland viele Zahlen über die russisch-jüdische Klientel gespeichert: 356 leben von Sozialhilfe, 73 in Wohnheimen. Fast die Hälfte ist älter als 60. „Das sind ja alles hochbegabte Leute“, sagt Guido Kläser. Aber warum sie die Mitarbeit an einem neuen Netzwerk für Integration ablehnten, das versteht er nicht: „Jeder will nur seine Wohnung haben und so vor sich hinbrodeln.“ Die Gemeinde benutzten viele nur, um ein Sprachrohr zu haben.
Igor Cherman ist an diesem Abend aus seiner Wohnheim-Zimmerhälfte in die Synagoge gekommen, weil sich ein neuer Rabbiner vorstellt. Der Rabbi aus Berlin spricht über die Schabbat-Tradition. Betont lebhaft. Igor Cherman verlässt das Gebäude durch den Hinterausgang. Wie er sich fühlt? Der grauhaarige Herr nimmt seine Kippa ab und deutet auf die Wegplatten im Vorgarten: Kreidekreise der Ermittler in Gelb und Rosa.
Auf einem Eckbalkon des Plattenbaus nebenan genießt ein Nachbar im gerippten Unterhemd die warme Abendsonne. Er beobachtet, wie die Jüdische Gemeinde sich zerstreut. Spuren erkennt er aus der Entfernung wohl nicht. Was er aber sehen kann, ist ein Polizeiauto an der Kreuzung und den grünlichen Schimmer der Sonnenstrahlen auf den Panzerglasfenstern der Synagoge.
Zitat:„Ich seh da kein judenspezifisches Problem. Das wär der Sache zu viel beigemessen.“
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