Desintegration in der Stadtgesellschaft

Lokale Fragmentierung: Exklusion ersetzt zunehmend traditionelle Formen sozialer Ungleichheit. Die Stadtteile, in denen vornehmlich Ausgegrenzte leben, werden nicht mehr als Heimat wahrgenommen, sondern als Zwang und Strafe. Teil IV der Serie „Arche WB“

von ALBRECHT GÖSCHEL

Seit geraumer Zeit prägen neue Begriffe wie Desintegration oder Ausgrenzung die sozial- und stadtpolitische Debatte. Bezeichneten traditionelle Termini wie Ungleichheit oder Marginalisierung zwar gravierende Gefälle, dennoch aber einen Zusammenhang zwischen oben und unten auf einer Skala des „Mehr oder Weniger“ in der Verteilung von Gütern und Leistungen, so signalisiert die neue Diktion einen Bruch dieses Zusammenhangs.

Stattdessen wird ein qualitativer Gegensatz zwischen Integrierten und Ausgegrenzten und damit die Fragmentierung eines gesellschaftlichen Ganzen behauptet, und sei dies auch von Ungleichheit geprägt. Das bundesweite Sanierungsprogramm „Soziale Stadt“ oder das Berliner „Quartiersmanagement“ sind Beispiele einer Stadtentwicklungspolitik, die von der Befürchtung einer derartigen gesellschaftlichen Spaltung getragen ist und nach Wegen einer Reintegration von Bevölkerungsgruppen sucht, deren Lebensbedingungen offenbar durch Verteilungsstrategien, wie der Versorgung mit sozialer Infrastruktur, nicht mehr nachhaltig verbessert werden können.

Die statistischen Daten, die Desintegration und Ausgrenzung nahelegen, verweisen durchweg auf Polarisierung: Gehobene Einkommen wachsen überproportional gegenüber mittleren und unteren, besonders gegenüber Transfereinkommen aus Arbeitslosen- und Sozialhilfe; und in der Raumstruktur der Stadt wiederholt sich diese Polarisierung, so dass sich in bestimmten Stadtteiltypen zunehmend Benachteiligte konzentrieren, in Berlin etwa in den früheren Arbeiterquartieren, in Stadtteilen des sozialen Wohnungsbaus aus den Sechziger- und Siebzigerjahren oder den „Plattenbauten“.

Bei allen Unterschieden tendieren sie zu überdurchschnittlichen und rapide wachsenden Anteilen neuer Armutsgruppen, während andere Bewohner in zunehmendem und beschleunigtem Maße wegziehen, meist weil sie eine diskriminierende Wirkung der Schulen für ihre Kinder befürchten. In allen Gebieten setzt eine sich beschleunigende Verwahrlosung und Zerstörung des öffentlichen Raumes ein und ein verbreitetes Gefühl der Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit, des Zerfalls der individuellen Biografien. Die Stadtteile werden nicht mehr als „Heimat“ und „Quartier“, sondern als Zwang und Strafe wahrgenommen, in Frankreich besonders drastisch von Jugendlichen zum Ausdruck gebracht, die Wohnbereiche dieser Art als „Galère“, sich selbst als „Galériens“ bezeichnen. Auch traditionelle Arbeiterquartiere waren häufig Orte der Armut und Not, ohne jedoch von diesen Verfallserscheinungen moderner Segregation geprägt zu sein. Grundlage der gegenwärtigen Ausgrenzung ist demnach nicht allein die zweifellos wachsende Armut, sondern auch das Stigma der Überflüssigkeit, das sich mit Armut verbindet. Den materiell benachteiligten Arbeitern oder „Proletariern“ der Hochindustrialisierung war dies Stigma fremd. Sie waren sich ihrer Nützlichkeit bewusst – „Wenn dein starker Arm es will!“ – oder konnten auf Mitgliedschaft in einer als Ganzes verstandenen nationalen Gemeinschaft pochen. An die Stelle einer solchen komplexen und umfassenden Mitgliedschaft, die den Wert des Einzelnen begründet, beginnt eine ausschließlich ökonomische Nützlichkeit zu treten. Sie bemisst sich nach Einkommen und nach Integration in formale Arbeit.

Wer wenig, immer weniger und schließlich gar nichts mehr verdient, ist nicht nur in der Sicht der verdienenden Mehrheit nutzlos, sondern fatalerweise auch in der eigenen. Die Überflüssigen teilen also die Bewertungen und Definitionen derjenigen, die sich noch als nützlich empfinden können, und eine andere Zugehörigkeit als die aus ökonomischer Nützlichkeit steht nicht mehr zur Verfügung. Die Ausgegrenzten und sich selbst Ausgrenzenden teilen die verbindlichen Werte der Selbstverwirklichung, die im Wesentlichen durch berufliche Karrieren, ökonomischen Erfolg und entsprechende Konsummuster realisiert werden.

Moderne Ausgrenzung entsteht demnach nicht allein durch wachsende Armut, zumindest nicht in den entwickelten Industrienationen, in denen das absolute Elend der Entwicklungsländer ausgeschlossen zu sein scheint, sondern durch wachsende Ungleichheit auf der Basis einer extrem hohen normativen Integration. Weil die Ausgegrenzten die Normen einer ökonomisch bestimmten Individualisierung teilen, vollziehen sie eine Selbstdefinition, die der stigmatisierenden Fremddefinition entspricht. Desintegration und Exklusion erweisen sich als die Schattenseite von normativer und ökonomischer Modernisierung, die Einkommenspolarisierungen und „Freisetzungen“ aus formaler Arbeit bewirkt, die Folgen aber der Verantwortung des Einzelnen überlässt, der diese Verantwortung auch akzeptiert.

Die Quartiersprogramme versuchen die Lebensbedingungen in den „Brennpunkten“ nicht nur durch materielle Versorgung zu verbessern, sondern solidarische Quartiersgemeinschaften herzustellen. Die benachteiligten „Restbewohner“ haben aber nur den einen Wunsch, die Problemgebiete so schnell wie möglich zu verlassen, suchen also individuelle Lösungen. Einzig sinnvoll scheint daher die Integration in ökonomische Nützlichkeit. Das Berliner Quartiersmanagement setzte daher anfangs vor allem auf Arbeitsbeschaffung. Da aber Vollbeschäftigung vermutlich nie wieder erreicht wird, droht Ausgrenzung durch Nutzlosigkeit zum Dauerzustand zu werden.

Erschwert werden die Quartiersprogramme zudem dadurch, dass aus Sicht der Ausgegrenzten Hilfsprojekte mit eben dem Stigma behaftet sind, dem sie selbst und ihre Stadtteile in Fremd- und Selbstdefinition unterliegen. Solidarische Aktionen der Betroffenen entstehen nicht. Dass sie dazu nicht in der Lage sind, kennzeichnet ihre Situation als Ausgegrenzte, die nicht gehört werden, die keine Rolle spielen und nur auf der Basis von Wohltätigkeit und Gnade der Mehrheit leben.

In einer von Selbstverwirklichung und Individualisierung geprägten modernen Marktwirtschaft grenzt aber nichts so sehr aus wie das eigene Empfinden, auf die Gnade anderer angewiesen zu sein. Die deutsche Vereinigung, in der sich der Osten nur formal, nicht aber im Alltagsverständnis auf Mitgliedschaft berufen konnte, kann als historisches Musterbeispiel dieser Ausgrenzung durch Gnade gelten.

Der Autor ist Mitarbeiter des Deutschen Instituts für Urbanistik