: Wem nützte der Krawall am 1. Mai?
betr.: Berichterstattung der taz zum 1. Mai
Wieder einmal hat es auf einer Mai-Demo in Berlin „gekracht“. Schnell werden da, insbesondere von unseren braven Medien, die altbekannten Schuldsprüche aus den früheren Jahren herausgeholt. „Die Autonomen haben für Randale gesorgt.“ Aber wer kann das so genau behaupten? Gewaltbereitschaft gibt es offensichtlich auf der „schwarzen“ wie auf der „grünen“ Seite.
Sogar die Gewerkschaft der Polizei spricht von „überzogenen“ Reaktionen der Ordnungshüter. Um der Wahrheit näher zu kommen, stellte schon der antike Richter Lucius Cassius die Frage: „Cui bono?“ (Wem nützt das?). Und die ist in diesem Jahr eindeutig zu beantworten. Ein Innensenator Werthebach, der offensichtlich Schwierigkeiten mit dem Wort „Demokratie“ hat, braucht „Fakten“ für sein undemokratisches Ansinnen, das Demonstrationsrecht einzuschränken. Teil eins seines Spiels: Die angemeldete Nazi-Demo in Hellersdorf wird mit solch durchsichtigen Gründen „verboten“, dass jedes Gericht der Welt diese Verbotsverfügung wieder aufheben muss. Teil zwei: Auf der linken Demo in Kreuzberg muss es zur Randale kommen. Beide bestellten Ereignisse reichen dann, um die angebliche Machtlosigkeit auf Grund der Gesetzeslage gegenüber den „Radikalen“ inszenieren zu können und die Abschaffung des Demonstrationsrechts zu fordern. „Wer weiß, wer in Zukunft im Anbetracht der neoliberalen Zerstörung unseres Gemeinwesens noch auf die Straße will. Könnte ja systemgefährdend sein . . .“, denken sich wohl Herr Werthebach und Co.
Wer will genau sagen, von wem die kurz nach Beendigung der Mai-Demo auftretenden ersten Steinwerfer bezahlt wurden? Gab es nicht letztes Jahr einen abgefangenen Polizeifunkspruch, aus dem bekannt wurde, dass sich Polizeieinheiten in „szenetypischer Kleidung“ im Demonstrationszug befanden? Könnte es nicht auch diesmal eine Kommandoeinheit gewesen sein, die mit einem Steinwurf das Signal zum Losschlagen an ihre Kollegen gab?
Eine Gegebenheit will ich schildern: Als Polizisten auf Demo-Teilnehmer zustürmten, flüchtete eine Gruppe Demonstranten in einen Hinterhof. Die Polizei stürmte hinterher und drängte die Menschen weiter in den Hof hinein und schrie, die Demonstranten sollen den Ort verlassen. Doch hinten gab es keinen Ausgang und vorne versperrten die Polizisten diesen. Die Demonstranten fragten: „Wohin verlassen?“ Die Polizei: „Los, über den Zaun“, und half mit Knüppeln nach. Dabei erlitten einige Teilnehmer schwere Prellungen, Verstauchungen und Zerrungen. Für Werthebach sind natürlich die Getriebenen die Randalierer. Klar, die haben ja Hausfriedensbruch betrieben und sich obendrein noch dem Zugriff der Polizei entzogen. So „auslegbar“ ist „Recht“. Und der Innensenator will dieses sogar ganz abschaffen.
Wie lange lässt sich diese Stadt einen Nazifreund und Demokratiefeind wie Herrn Wertebach noch gefallen? Von einem Rechtsaußen-Ideologen wie Herrn Werthebach ist allerdings nichts anderes zu erwarten. Viel enttäuschter bin ich über die deutschen Journalisten. Aber nach dem journalistischen Lügenfeuerwerk zur Nato-Aggression in Jugoslawien war wohl auch nichts anderes zu erwarten. WULF-HOLGER ARNDT, Berlin
Ich war selbst in Berlin und möchte gerne als Augenzeuge einige Dinge aus meiner Perspektive berichten:
Schon den ganzen Tag über konnte man überflüssige Provokationen der Polizei miterleben. Ein Mitglied unserer Gruppe wurde wegen der Mitnahme eines Halstuches (Vermummungsgegenstand) für zwölf Stunden festgenommen. Ich versuchte, diverse Pressereporter auf diesen Sachverhalt hinzuweisen – niemand zeigte Interesse. Ein Team des ZDF erklärte, es interessiere sie nicht, sie machten eine Reportage über Deeskalationsstrategie.
Die Demo begann wie geplant mit einigen Rednern. Die angemeldete und genehmigte Route startete am Oranienplatz und sollte dort auch wieder enden. Bis kurz vor Schluss blieb es weitgehend friedlich. Als die Spitze des Demonstrationszuges den Oranienplatz erreichte, rannten Polizisten in die Oranienstraße und prügelten auf alles und jeden ein. Auch von der anderen Seite erschienen nun Polizisten. Steine und Flaschen flogen.
Ich konnte mich auf das Fensterbrett einer Kneipe in der Straße flüchten und beobachten, wie eine Gruppe von drei Leuten, die mitten in der Straße stand, durch Hochhalten der Hände signalisierte, dass sie wehrlos waren und nur unverletzt bleiben wollten. Es nützte ihnen nichts. Eine Gruppe von Polizisten rannte auf sie zu und prügelte los. Ein Mann versuchte, in den Eingang der Kneipe zu flüchten. Er wurde von einem Polizisten am Kopf zurückgerissen und auf die Straße geschleudert. Ich und mein Begleiter versuchten, über den Oranienplatz den nächsten Bahnhof zu erreichen. Der gesamte Platz war voll von Polizei, ein Wasserwerfer stand schon bereit. Wir erreichten den Bahnhof und mussten feststellen, dass die Polizei sämtliche Bahnhöfe in und um Kreuzberg geschlossen hatte. Es war friedlichen Demonstranten nicht möglich, das Geschehen zu verlassen. Nach einem längeren Fußmarsch und dem Anblick von diversen Straßenschlachten erreichten wir einen nicht gesperrten Bahnhof.
Anhand des Erlebten war für mich ein schockierender Sachverhalt klar: Die Geschehnisse waren kein Zufall. Kurz bevor die Demo ihr offizielles, friedliches Ende gefunden hat, wurde sie von der Polizei zusammengeprügelt. Die große Masse der friedlichen Demonstranten hatte keine Möglichkeit, sich dem zu entziehen.
Einen wusste ich, warum: Der Berliner Innensenator Wertebach forderte eine Verschärfung des Versammlungsrechts und kündigte eine Bundesratsinitiative an. HANNO BÖCK, Murrhardt
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