Wimper klimper

Was Renate Kern mit Gottfried Keller verbindet: Rainer Moritz erzählt von seiner Liebe zur Schlagermusik

Rainer Moritz ist Leiter des Hoffmann & Campe Verlages in Hamburg. Er kennt sich gut aus mit Bestsellern und wie man Bücher zu solchen macht. Im Deutschen Taschenbuch Verlag hat er nun in der Reihe „Kleine Philosophie der Passionen“ ein Büchlein mit dem Titel „Schlager“ herausgegeben. Es wird vermutlich nicht besonders gut verkauft werden. Schlager hat in Deutschland immer noch den Ruf, den Theodor W. Adorno einst fundiert hat: „Schlager beliefern die zwischen Betrieb und Reproduktion der Arbeitskraft Eingespannten mit Ersatz für Gefühle überhaupt, von denen ihr zeitgemäß revidiertes Ich-Ideal sagt, sie müssten es haben.“

Rühmkorf, Rolf-Dieter Brinkmann und andere Interpreten des Achtundsechzigergefühls taten das Ihre, die Unterhaltungen des Alltags mit spitzen Lippen zu kritisieren. Stattdessen: Jazz. Oder Rock. Oder Punk. Als ob diese Sorten Musik nicht ebenfalls unter Adornos Verdikt fallen. Moritz dagegen traut nur seinen eigenen Gefühlen über den Weg. „Die Liebe zum populären Liedgut lebt davon, dass sie sich an Kleinigkeiten festmacht, an zwei, drei Zeilen eines Refrains, am unwiderstehlichen Outfit einer Sängerin, an der eigenartigen Aussprache eines Wortes oder an der Tiefgründigkeit des Backgroundchores“, schreibt er. Und berichtet dann von nichts als von seinen Vorlieben, von seiner Herzensbildung seit 1958, als er in Heilbronn geboren wurde.

Vor allem Christian Anders gilt seine Sympathie, dem Sänger, der 1972 mit „Es geht ein Zug nach Nirgendwo“ einen der Hits jenes Jahres hatte, das Moritz’ Generation als Willy-Brandt-Jahr (Friedensnobelpreis, Misstrauensvotum) im Gedächtnis hält. Anders, so Moritz, sei der melancholische Gegenentwurf zur Munterkeit der damals aufkommenden Partyschlager gewesen, kein Sänger im Stile von „Heute hau’n wir auf die Pauke“. Moritz, ein glänzender Stilist, weiß Renate Kern („Du musst mit den Wimpern klimpern“) mit dem Dichter Gottfried Keller ins Verhältnis zu setzen, erkennt, weshalb Katja Ebstein im Grunde eine Vertreterin des Grauens ist und würdigt Guildo Horn und seinen Grand-Prix-Auftritt vor zwei Jahren, weil der Mann nicht nur ein Ironiker war, sondern Liebe verdient, weil seine Sache doch immer ernst gemeint war.

Der Autor räumt zudem mit dem Ressentiment auf, dass in den Siebzigern alle vernünftigen jungen Menschen nur Rock oder Punk gehört haben. Moritz beharrt darauf, dass der Schlager, der in anderen Ländern Pop genannt wird, ebenso viele (oder wenige) große (und kleine) Momente des Alltags zu befördern weiß wie die Musiken, die vor allem eines eint, nämlich kein Schlager zu sein. Adornos Analyse mag damals gestimmt haben: Schlager hört man nicht, will man den ausgebeuteten Klassen helfen. Tatsächlich verbarg sich dahinter der Dünkel der Elfenbeintürme, aber keine Lockerheit im Umgang mit den unterhaltenden Dingen des Lebens; was immer noch gilt, trotz der so genannten Schlagerrenaissance vor zwei Jahren.

Rainer Moritz’ Rehabilitionsversuch einer populären Gattung des Ästhetischen ist genial, aber nützen wird er nicht: Das Vorurteil gegen Volkskunst in intellektuellen Kreisen ist zu mächtig. Man macht sich eben mit dem Pöbel nicht gemein.

JAN FEDDERSEN

Rainer Moritz: „Schlager“. dtv, München 2000, 126 Seiten, 15,50 DM