: Der Mann, der zu viel dachte
von PATRIK SCHWARZ
Was ist nur mit dem Mann los? Ob Iserlohn, ob Hattingen – wenn Jürgen Rüttgers in diesen Tagen im Wahlkampf von Nordrhein-Westfalen auftritt, wird gegen das Kapital gewettert. Keine Ansprache, in der der Spitzenkandidat der CDU nicht die Macht der Konzerne geißelt, den Bundeskanzler als „Genossen der Bosse“ schmäht und davor warnt, Rot-Grün wolle „der Oma ihr klein Häuschen“ in Grund und Boden besteuern.
Jürgen Rüttgers’ letzte Pirouette im Kampf um die Mehrheit bei den Landtagswahlen am kommenden Sonntag sorgt für Aufsehen. „Verkehrte Welt“, befindet die Financial Times Deutschland, „plötzlich spricht er wie ein Arbeiterführer“, rügt die konservative Welt, der „frühere Modernisierungsfanatiker“ warne im Endspurt des Wahlkampfs unversehens vor den Gefahren der Moderne, trete gar auf „wie die Reinkarnation von Johannes Rau“. Rüttgers verwirrt wieder einmal. Ist das noch derselbe Politiker, der Kinder statt Inder an deutsche Computer setzen wollte? Wurde er nicht gerade noch als „Haider vom Rhein“ beschimpft?
Der Mann berauscht weder sichnoch seine Zuhörer
Klar ist zumindest, dass die jüngste Wandlung des Jürgen R. nicht spontanen Gefühlsaufwallungen geschuldet ist. Wenn der Technokrat mit der randlosen Brille und dem leichten Sprachfehler auf Marktplätzen und in Turnhallen die Stimme erhebt, berauscht er weder sich noch seine Zuhörer.
Seine Stärke sind seine Konzepte. Was immer er sagt, ist Teil eines größeren Gedankengebäudes. Die analytische Strenge seiner Überlegungen und Argumente ließ ihn binnen sieben Jahren vom Abgeordneten zum Minister im Kabinett Kohl aufsteigen. Weil er seine Geistesgaben auch auf so manch progressive Idee verwandte, begegneten ihm selbst viele politische Gegner mit Hochachtung.
Praktisch im Alleingang rang ausgerechnet der spätere Inder-Schinder im vergangenen Jahr seiner Partei ein Toleranz-Edikt für Muslime in Deutschland ab. Zwar hielt der 48-Jährige länger als andere aus der CDU-Nachwuchsgarde an Helmut Kohl fest, doch legte er noch während der Spendenaffäre das bisher radikalste Papier zur Kastration der wuchernden Parteienmacht in Deutschland vor.
Was also ist mit dem Mann los? Erst scharf nach rechts, dann scharf nach links – das kann nur ein Populist sein, lautet die gängige Lesart des Rüttgersschen Veitstanzes. So weit, so einfach. Wäre da nicht die irritierende Penetranz, mit welcher der Geschmähte behauptet, er finde es ganz logisch, ja zwangsläufig, gleichermaßen gegen die Flut der Fusionen und den Ansturm der Inder zu wettern.
Natürlich ist es alles andere als das. Es grenzt vielmehr ans Exzentrische, die Macht der Banken zu geißeln als Spitzenvertreter einer Partei, die so wirtschaftsnah ist, dass sich ein langjähriger Top-Banker bereit erklärt, ihr Schatzmeister zu werden. Mindestens ebenso verwunderlich ist es, dass einer, dem es als selbstgekürter „Zukunftsminister“ nie schnell, hoch und weit genug mit der Globalisierung gehen konnte, plötzlich Computerspezialisten mit der falschen Hautfarbe ausbremsen will.
Doch so wenig ihn die Welt in diesen Tagen vor der Landtagswahl versteht, so wenig fehlt es Jürgen Rüttgers an Argumenten. Seine Rechtfertigungen sind intellektuell von schneidender Schärfe – aber auch von ebensolcher Gefühlskälte. „Es hilft nix, aus der CDU eine Ober-CDU zu machen“, sagt er – die Partei dürfe nicht nur Wirtschaftspartei sein, müsse sich öffnen zu enttäuschten SPD-Wählern. Rüttgers’ Stab macht keinen Hehl daraus, dass die Kampagne „Kinder statt Inder“ mindestens so sehr auf die „sozialdemokratischen Traditionskompanien“ abzielt wie auf die Wähler am rechten Rand.
Neben der taktischen Rechtfertigung steht die politische: Die Green Card für Inder bedeute, die kleinen Leute dem Druck der Globalisierung auszuliefern. Wer sie davor bewahren wolle, so Rüttgers’ Argument, müsse sie zugleich davor schützen, Opfer heimischer Umbrüche etwa infolge der allgemeinen „Fusionitis“ zu werden.
Wenn man Rüttgers’ eigene Logik zum Maßstab nimmt, müsste es in NRW in der Woche vor der Wahl nur so wimmeln von CDU-Anhängern. Doch zu Rüttgers’ Ungemach schert sich die Wirklichkeit wenig um seine Logik. Die CDU dümpelt mit 38 Prozent sieben Prozent hinter der SPD mit 45. Nachdem FDP und Grüne etwa gleichauf bei 7 Prozent liegen, kann Ministerpräsident Clement sich nach der Wahl wahrscheinlich zwischen zwei kleinen und gefügigen Koalitionspartnern entscheiden. Die CDU taugt da nur für die Opposition. Auch Rüttgers persönliche Popularitätswerte sind enttäuschend niedrig.
An der Spenden-Affäre kann es nicht liegen. Bei öffentlichen Veranstaltungen gebe es so gut wie keine Fragen mehr danach, berichten die Wahlkämpfer der CDU. Die Landes-SPD hat mit der Flugaffäre zu viel Dreck am eigenen Stecken, um genussvoll im Sumpf der Konservativen herumzustochern. Von Angela Merkels Auftritten in NRW wird berichtet, die Menschen hätten einen Drang, sie leibhaftig zu berühren, als sei sie das Prunkstück einer Madonnenprozession.
Nein, es liegt wohl an Jürgen Rüttgers selbst. Vielleicht denkt er ein bisschen zuviel. Und vielleicht ist es ein bisschen viel von den Wählern verlangt, diese Gedanken nachzuvollziehen. Immerhin müssten sie dann damit klarkommen, wie man ganz links und ganz rechts zugleich sein kann – und warum es sich dafür lohnt, eine beträchtliche Reihe lieb gewonnener Überzeugungen über den Haufen zu werfen.
Vielleicht sollte Rüttgers Gebrauchsanweisungen verteilen
Jürgen Rüttgers, der den „kleinen Leuten“ verspricht, dass sich ihr Leben nicht ändern muss, verlangt ihnen als erstes einen mentalen Salto ab: Nicht nur sollen sie seine Gedanken verstehen, sondern dazu auch die Gedanken, die er sich über seine Gedanken macht. Das erfordert eine geistige Gelenkigkeit, die viele nach Feierabend nicht mal für ihre Frau oder ihren Mann aufbringen – warum dann für Jürgen Rüttgers?
Vielleicht stieße der Spitzenkandidat ja auf mehr Verständnis, wenn er bei seinen Auftritten nicht Postkarten verteilen ließe, sondern Gebrauchsanleitungen. Dort könnte dann geschrieben stehen, was der Kandidat sich dachte bei seinen Gedanken und wie sie zu den vorherigen passen und warum sich daraus nicht Widersprüche ergeben und Fragezeichen, sondern im Gegenteil so etwas wie eine „Theory of Everything“ für die gesellschaftlichen Probleme des 21. Jahrhunderts.
Vorerst druckt „die neue CDU im Westen“ aber lieber Postkarten, und so versucht der Kandidat ein bisschen von den notwendigen Erläuterungen in seine Reden zu packen – was irgendwie auch wieder passt, schließlich war er ja mal Bildungsminister. Trotzdem ist das Echo eher verhalten, um es vorsichtig zu formulieren. Bürger sind widerspenstige Biester, sie lieben die Belehrung nicht, sondern bevorzugen Politiker, die aus der Prallheit der eigenen Erfahrungen schöpfen. Norbert Blüm ist so ein Beispiel.
Manches, was Jürgen Rüttgers gegen die Macht der Konzerne sagt, könnte auch von Blüm kommen. Mit einem Unterschied: Seine Auftritte waren immer gedeckt von der eigenen Biografie. Ihm haben’s die Wähler geglaubt: die Vermählung von Kapital und Arbeit, von mehr Marktwirtschaft und mehr Sozialstaat. Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen ist Blüm damals trotzdem nicht geworden.
Nicht einmal die Ausländerfeindlichkeit haben die Nordrhein-Westfalen Jürgen Rüttgers so richtig abgenommen. Anders als die Unterschriftensammlung der hessischen CDU gegen den Doppelpass im Wahlkampf 1999 ist die Postkartenaktion offenbar gescheitert. Seit Wochen weigert sich der CDU-Landesverband, die Zahl der Rückläufe zu nennen.
Daraus zu schließen, das aufrechte Volk von NRW sei für Populismus nicht empfänglich, wäre sicher ein Irrtum. Rüttgers’ Kinder-Kampagne scheiterte nicht, weil er zu extremistisch war. Im Gegenteil – er war nicht rücksichtslos genug, um sie zum Erfolg zu führen. Der Mann, den seine Gegner schon in die Nähe von Jörg Haider gerückt hatten, bekam Angst vor der eigenen Demagogie.
Die Aktion sei von Anfang an hart an der Grenze des moralisch Vertretbaren angelegt gewesen, gibt einer zu verstehen, der sie entscheidend mitgeplant hat. Roland Koch in Hessen hatte sich um diese Grenze nicht geschert. Er ertrug den Verdacht, ein Ausländerfeind zu sein, ohne Murren, und brachte es damit binnen weniger Wochen aus einer denkbar schlechten Ausgangsposition zum Ministerpräsidenten. Rüttgers, der Mann der Konzepte, hatte für das Spiel mit der Fremdenfeindlichkeit sein eigenes Konzept.
Schröders Green-Card-Initiative sah das Rüttgers-Lager als Gelegenheit, das Lieblingsthema ihres Kandidaten ins Spiel zu bringen: die Zukunft von Bildung und Arbeit. „Durch die Kampagne sind wir aus der Delle in den Umfragen rausgekommen, in die wir durch die Spendenaffäre geraten sind“, gibt Rüttgers unumwunden zu.
Aus dem Verlust der Regierungsmehrheit in Hessen im Vorjahr hatte freilich auch Rot-Grün gelernt. Während der Satz „Kinder statt Inder“ noch weithin belächelt wurde, ging man in der SPD-Parteizentrale in Berlin sofort von einer Kampagne aus. Vor allem Generalsekretär Müntefering, der zugleich Landesvorsitzender in NRW ist, wollte den Fehler von Hessen vermeiden, als Rot-Grün die CDU-Unterschriftenaktion viel zu lange ignoriert hatte. Bald verglichen Politiker von Cem Özdemir bis Wolfgang Clement den CDU-Frontmann mit dem österreichischen Rechtspopulisten Jörg Haider.
Rüttgers’ Angst vor dereigenen Demagogie
Rüttgers litt womöglich stärker, als seine Gegner es vermuteten. Fragt man ihn zu Vorwürfen, die er fürchtet, sagt er: „Ich will auf keinen Fall kalt sein. Ich will auf keinen Fall, dass Leute unter die Räder kommen.“ Nichts habe den Kandidaten während des Wahlkampfs so sehr getroffen wie der Haider-Vorwurf, sagt ein Mitarbeiter. Irgendwann muss der Punkt gekommen sein, an dem er befürchtete, mit der Inder-Kampagne das einzige zu verspielen, was ihm auch nach einer Wahlniederlage noch bleiben würde: Im christlichen Vokabular der CDU könnte man sagen, „seine Seele“, im Jargon der politischen PR, „sein Image“.
Auf dem Spiel stand Rüttgers’ Rolle als Peter Glotz der CDU, als einziger Partei-Intellektueller neben Kurt Biedenkopf. Jahrelang hatte er daran gearbeitet, parallel zur Politik Bücher geschrieben und das biedere Bildungs- zum Zukunftsministerium aufpoliert. Die Haider-Kampagne konnte all das zunichte machen. Umgeben von zunehmend verzweifelten Mitstreitern rüstete er sich zu seiner letzten Wendung dieses Wahlkampfs.
„Es geht überhaupt nicht um die Frage, ob da ein paar tausend Computerleute kommen“, versicherte er in den letzten Tagen wiederholt. Auf Kundgebungen hütet er sich, die Postkarten gegen Einwanderung auch nur in die Hand zu nehmen, geschweige denn zu verteilen. Der Spitzenkandidat möchte sich mit seiner eigenen Petition die Hände nicht mehr schmutzig machen.
Was von seinen Einwänden gegen die Green Card bleibt, kleidet er in Fürsorglichkeit, beruft sich ausdrücklich auf Willy Brandts Anliegen eines Nord-Süd-Ausgleichs: „Wenn man einmal verstanden hat, dass es nur eine Welt gibt, kann die Lösung nicht sein, den armen Ländern ihre gerade ausgebildeten Experten wegzunehmen.“ Zwar sei er bekanntlich gegen die Zulassung ausländischer IT-Experten, „aber wenn wir sie holen, dann müssen wir sie auch mit Familie holen“, erklärt er neuerdings zur Verblüffung seiner Zuhörer – der Schutz der Familie sei schließlich im Grundgesetz verankert.
Die Wähler hat er nun endgültig verwirrt. Ihr Bedarf an weiteren Gebrauchsanleitungen dürfte gedeckt sein. Nur der Kandidat selbst glaubt immer noch, geradeaus zu denken. Wenn er Pech hat, verliert er darüber tatsächlich seine Seele. Wenn Jürgen Rüttgers Glück hat, verliert er nur die Landtagswahl.
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