Berechnete ironische Brechung

■ Der FC St. Pauli wird am Montag 90 Jahre alt, will aber lediglich ein kleines Bisschen feiern

Einmal genau gerechnet: Am 15. Mai 1910 wurde der FC St. Pauli gegründet. Dann wird der Verein ja am Montag 90 Jahre alt. Wenn das mal ein Grund zu feiern wäre. Doch der Jubilar will gar keine Fete veranstalten. Das mag mit Hamburgischem Understatement zu tun haben: 75 oder 100 sind echte Jubiläen, 90 nur ein Zwischenschritt. Vielleicht aber wäre ein großes Fest auch nur eine ironische Brechung der derzeitigen Situation.

Fangen wir einmal zu rechnen an. Im sportlichen Bereich droht der Kollaps, genauer gesagt der Abstieg mindestens in die Regionalliga. Ein Punkt trennt die Braun-Weißen vier Spieltage vor Saisonende noch von einem Abstiegsplatz, und ausgerechnet heute Abend (19 Uhr) kommt ein Aufstiegskandidat ans Millerntor. Alemannia Aachen hat durchaus noch Chancen, sich für die Bundesliga zu qualifizieren und wird gewohnt kämpferisch antreten. Hauptsache, Trainer Eugen Hach bleibt ruhiger als noch am vergangenen Wochenende, als der Freund des ehemaligen Waldhof Mannheim-Coaches und NPD-Kandidaten Klaus Schlappner Franklin Bitencourt von Energie Cottbus an die Gurgel ging und ihn würgte. Wegen der Brisanz des Spiel hat der DFB reagiert und erstmals seit 1997 mit dem Landshuter Wolfgang Stark wieder einen FIFA-Schiedsrichter für eine Zweitligapartie nominiert.

Abrechnen kann auch Klaus Thomforde. 100 Erstliga- und 217 Zweitligaeinsätze für den FC St. Pauli stehen auf seinem Konto. Mehr werden es auch nicht. 15 Monate nach seinem Kreuzbandriss hat die Torwart-Legende bei der Verwaltungsberufsgenossenschaft einen Antrag auf Sportinvalidität gestellt. „Die Ärzte haben gesagt, dass es keinen Zweck mehr hat“, meinte der 37-Jährige. Seit 1983 steht der Nachfolger des noch legendäreren Volker Ippig auf der Gehaltsliste des Vereins und ist damit eine der treuesten Seelen im Profifußball. Thomforde wird im Rahmen des letzten Saisonspiels vom Verein gebührend verabschiedet. Bezeichnend ist aber, dass er sein letztes Pflichtspiel im Dezember 1998 gegen Greuther Fürth mit 0:2 verlor.

Aber mit einem klitzekleinen Fest darf am Montag doch gerechnet werden: Die FC St. Pauli Marketing GmbHstellt den neuen Hauptsponsor vor. Noch wird über die Firma ein großes Geheimnis gemacht. Bekannt ist nur, dass es sich um junges, stark wachsendes Internet-Unternehmen aus Hamburg handelt, das Web-Seiten designt und für den Klub unter anderem ein Shop-System im Internet entwi-ckeln soll. Fest steht auch, dass es sich nicht um die Ision AG handelt, die bislang in diesem Bereich für St. Pauli tätig war.

Immerhin können die Verantwortlichen ab der kommenden Saison mit bedeutend mehr Geld rechnen. Während der bisherige Trikotsponsor Jack Daniel's ungefähr 850.000 Mark pro Spielzeit überwies, bezahlt der neue Sponsor 1,5 Millionen Mark dafür, dass sein Schriftzug auf der Brust der Millerntor-Kicker prangt. Bei einem Aufstieg in die Bundesliga innerhalb der nächsten drei Jahre, der Laufzeit des Vertrags, erhielte der FC St. Pauli gar fünf Millionen Mark. Bei einem Abstieg in die Regionalliga entsprechend natürlich viel, viel weniger.

Immerhin wird durch diese Vereinbarung deutlich, dass die Vermarktungsabteilung noch die erfolgreichste im Verein ist. Wer in der Zweiten Liga im Abstiegskampf steckt und dennoch mit Kappa einen neuen Ausrüster aus dem Hut zaubert und dann auch noch einen ordentlichen Sponsorenvertrag abzuschließen weiß, kann gar nicht so schlecht arbeiten. Wenn der Klub das Geld auf der anderen Seite nicht wieder mit vollen Händen ausgeben würde, käme sich die Marketing nicht immer vor wie ein Melkesel.

Genug gerechnet. Heute müssen die Spieler gegen Aachen ihrem Verein ein Geburtstagsgeschenk präsentieren. Drei Punkte wären zwar nicht gerade viel im Abstiegskampf und auch noch längst nicht das Ende aller Sorgen, aber schon ein Zeichen, dass das Team aus eigener Kraft die Klasse erhalten möchte. Denn die Spieler sollten bedenken: Auf einen 90-Jährigen muss man ganz besonders Rücksicht nehmen. Er steht schließlich schon mit einem Bein im Grab.

Eberhard Spohd