: Freie Hand und das Baby im Tuch
Das Tragen des Babys im Tragetuch macht Eltern flexibler und ist für das Kind natürlicher, sagt Karin Meyer von der „Trageschule“ / Tragetechniken mit Tuch gibt es viele, sie müssen nur individuell eingesetzt werden
Mit dem Baby im Kinderwagen unterwegs, das ist manchmal der wahre Albtraum: Man bleibt in der Drehtür eines Kaufhauses stecken oder fährt in überfüllten Fußgängerzonen dem Vordermann oder der Vorderfrau in die Hacken. Viel entspannter für alle Beteiligten ist das Transportmittel Tragetuch. Die taz sprach dazu mit Karin Meyer, Psychologin, Körpertherapeutin und Mutter zweier Söhne. Die 35-Jährige bietet in ihrem Institut für Reichianische Körpertherapie Kurse für Eltern und ihren Säugling an. 1995 gründete sie mit einer Kollegin in Berlin die „Trageschule e.V.“. Seit dreieinhalb Jahren bringt sie auch in Bremen Eltern das Tragetuch näher. Sie spricht über Vorteile, Vorurteile und eigene Erfahrungen.
taz: Was sind die Vorteile, sein Baby im Tragetuch zu tragen?
Karin Meyer:Für das Baby erfüllt das Tragen im Tragetuch eine bestimmte Form von Körperkontakt - ein Grundbedürfnis von jedem Baby. Es ist von seinen psychischen und motorischen Ausstattungen optimal dafür ausgestattet, am Körper getragen zu werden.
Gibt es auch Vorteile für Mutter oder Vater?
Ja. Auch Eltern haben das Bedürfnis nach Körperkontakt. Außerdem hat man mit dem Tragetuch eine größere Mobilität als mit dem Kinderwagen - zum Beispiel in der Straßenbahn. Auch im Haushalt ist das Tragetuch günstig. Mütter, die ihr Baby nicht tragen, legen ihr Kind hin, nutzen die Zeit kurz, um etwas zu erledigen. Dann meckert das Kind. Sie müssen sich mit ihm beschäftigen, gehen dann wieder weg. Es ist eine ständige Zerrissenheit zwischen den alltäglich zu verrichtenden Tätigkeiten und den Bedürfnissen des Babys. Trägt man das Kind mit sich herum, dann kann es miterleben, was man macht. Und man selbst hat freie Hände und muss nicht ständig zwischen seiner Tätigkeit und dem Kind hin und her springen. Der durch unzählige Unterbrechungen zerstückelte Alltag wächst wieder zusammen und ist leichter zu bewältigen. Und das Kind ist trotzdem gut versorgt und zufrieden.
Mit welchen Vorurteilen haben Sie zu kämpfen?
Ein häufiges Gegenargument ist die Belastung für die Wirbelsäule des Kindes. Die Wirbelsäule des Kindes wird durch das aufrechte Tragen im Tuch gestaucht. Dazu kann ich sagen, dass es in erster Linie wichtig ist, dass das Kind anatomisch korrekt getragen wird. Das heißt, dass die Beine des Säuglings mindestens im rechten Winkel angehockt sind. Das Tragetuch muss das Baby in dieser Haltung, die es sowieso aktiv selbst einnimmt, unterstützen. In dieser Stellung ist die Wirbelsäule des Säuglings eher leicht gerundet und das Becken nach vorne gekippt. Dies ist physiologisch betrachtet die optimale Haltung für einen Säugling. Das Getragenwerden ist der anatomischen Ausstattung des Babys angepasst.
Was ist mit dem Urteil, das Kind würde durchs ständige Tragen verwöhnt?
Oft hört man, wenn ein Kind immer Körperkontakt hat, wird es sich nur schwer entwöhnen. Dagegen kann ich ganz klar sagen, dass die Erfahrung und Wissenschaft eindeutig das Gegenteil beweisen. Ein Kind, das getragen wird und eine gute Bindung zu seinen Eltern hat, entwickelt sich selbstständiger. Kinder, deren Grundbedürfnisse nicht erfüllt sind, werden anhänglicher und klammern. Das Kind entwickelt sich - aus dem Tragetuch heraus. Zu welchem Zeitpunkt ist individuell unterschiedlich. Generell lässt sich sagen: Je mobiler das Baby wird, desto größer seine Erkundungsreise, desto weniger wird es getragen.
Bis zu welchem Alter kann man ein Kind denn eigentllich im Tragetuch tragen?
Wenn man will, bis zu drei Jahre lang. Die Haupttragezeit ist im ersten Lebensjahr, solange die Kinder noch nicht laufen können.
Wird das Kind aber nicht auch irgendwann zu schwer?
Nein. Ich vergleiche das so: Im Fitnessstudio gibt es auch ein langsames Aufbautraining. Nicht anders ist es beim Tragen eines Kindes. Wenn man ein Kind mit drei Kilo anfängt zu tragen und das regelmäßig, dann kommt einem das mit zehn Kilo nicht mehr so schwer vor. Deshalb sollten Eltern das Tragen in den Alltag einbauen. Wenn man das Tuch nur ab und zu benutzt, ist es viel anstrengender.
Was gibt es für verschiedene Tragetechniken?
Es gibt Techniken vor dem Bauch, auf der Hüfte und auf dem Rücken. In meinen Kursen zeige ich Techniken, die für europäische Eltern geeignet sind. Das sind vor allem solche, bei denen man über beide Schultern bindet. Trotzdem kann man kein Dogma setzen, wie viele Stunden und auf welche Art und Weise ein Kind zu tragen ist. Das ist individuell zu entscheiden.
Mit welchen Motivationen kommen die Eltern in Ihre Kurse?
Es hat sich im Laufe der letzten Jahre verändert. Als ich 1995 mit der Trageschule angefangen habe, kamen viele Eltern mit einer Art Ideologie: Es ist wichtig für mein Kind, dass es getragen wird. Sie haben dabei ihre eigenen Bedürfnisse völlig vergessen. Für die Eltern, die jetzt kommen, zählen auch die Vorteile, die ich vorher genannt habe - größere Mobilität, freiere Hände, freier Kopf. Und sie fühlen sich sozial integrierter, weil sie nicht so sehr an Schlafenszeiten gebunden oder durch bestimmte Entfernungen beschränkt sind.
Und Sie selbst tragen Ihre Kinder auch?
Ja. Da kann man die Individualität auch sehr schön sehen. Meinen ersten Sohn, der heute fünf Jahre alt ist, habe ich sehr viel getragen, im ersten halben Jahr locker sechs bis acht Stunden am Tag. Mein zweiter Sohn ist jetzt acht Monate alt und ganz anders. Er hat lange nicht so das starke Bedürfnis nach Körperkontakt und Nähe. Er spielt auch sehr gerne alleine auf dem Boden. Ihn trage ich nicht halb so viel.
Fragen: Tina Bauer
Neue Kurse in der Trageschule von Karin Meyer fangen Anfang Juni an. Weitere Informationen und Hinweise gibt es unter folgender Telefonnummer außerhalb Bremens: 04408/609 46.
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