piwik no script img

„Zeigen ist ein Grundbedürfnis“

Ein „Global Player“ der anderen Art – Rajeev Sethi, Ausstellungsmacher für die Expo. Seine Themenparkausstellung zu den Grundbedürfnissen wurde von Menschen aus aller Welt gestaltet

Er wird sich verspäten, heißt es, die Maschine landet nicht vor 18 Uhr. Rundum leeren sich die Räume im Fünf-Sterne-Container des Expo-Büros. So habe ich Muße, noch einmal über den Einstieg in dieses Interview nachzudenken. Soll ich behutsam beginnen, mich erst einmal vor dem Künstler verneigen, wo er doch als Diva gilt und genialischer Chaot? Oder soll ich ihn gleich zur Ausstellung befragen? Herr Sethi, was fällt alles unter die „Grundbedürfnisse“, von denen Ihr Teil des Themenparkes handelt? Was macht eigentlich ein „Szenograf“?

Nein, alles zu trocken. Soll er von seiner Zeit beim Theater erzählen, als er mit Ariane Mnouchkine inszenierte und Peter Brook bei der monumentalen Aufführung des „Mahabharata“ zur Seite stand? Vielleicht ein therapeutisch: Wie fühlen Sie sich? Oder: Wie finden Sie Hannover?

Stimmen eilen den Flur entlang. Was sich anhört wie eine vielköpfige, eifrig diskutierende Gruppe, sind gerade zwei Personen: Sethi und sein Assistent Sujit Tolat. Der Meister rauscht in einem wallenden Gewand herein, sandfarben und safrangelb, die schwarzen Locken etwas platt gedrückt, die Stimme wundgeredet. Seine Begrüßung, höflich und erregt zugleich: „Schön, Sie zu sehen. Sie fragen mich besser nicht nach meinem momentanen Grundbedürfnis!“

Hoppla – der souffliert sogar die Frage, ausgezeichnet. Selbstredend hake ich nach: „Und das wäre?“ – „Schlaf! Nur Schlaf. Wir waren ununterbrochen unterwegs. Erst in China, Tibet, Indien, jetzt in Bolivien, Honduras, Haiti, London, Paris – alles in sechs Wochen.“ Sethis Teil der Weltausstellung ist tatsächlich von Menschen aus aller Welt gestaltet worden, nur dass diese Designer nicht in chicen Büros, sondern in armseligen Dörfern leben. Es sind Menschen, für welche die Befriedigung selbst elementarer Bedürfnisse nicht selbstverständlich ist. Für die etwa Wasser, Nahrung, Arbeit oder Bildung ein Problem darstellen.

Wie ein Komet muss Sethi für ein paar Tage in diesen Dörfern erschienen sein, einen Schweif aus Mitarbeitern – Assistent, Fotograf, Fahrer, Dolmetscher – hinter sich herziehend. Mit der ihm eigenen Mischung aus Unschuld und Besessenheit hat er versucht, die Bewohner für eine Selbstdarstellung ihrer Existenz zu begeistern. Doch wie erklärt er einem westafrikanischen Fischer oder einem indischen Tagelöhner das Konzept, geschweige denn den Sinn der Expo? Wie bringt er Menschen, die selbst noch nie in einer Ausstellung waren, dazu, Exponate zu schaffen? Sethis dunkelbraune Augen leuchten, schon sind wir bei seinem Lieblingsthema. „Alle Menschen spielen mit Puppen, überall auf der Welt. Mit Figuren lassen sich hervorragend Geschichten erzählen – in einer Sprache der Hand, der Geschicklichkeit, die keinen Übersetzer braucht.“

Er erzählt von seiner Visite in Bolivien, in der Mondlandschaft am Titicacasee. Jeder Tropfen Wasser ist dort kostbar, doch bislang hat die Versorgung nie recht funktioniert. „Bis ein deutscher Tüftler auf einem Motorrad kam, der eine genial einfache Pumpe konstruierte.“ Dadurch haben jetzt 10.000 Menschen zuverlässig Wasser. „Eine tolle Geschichte – aber wie erzählst du sie? Ich frage immer nach den Ausdrucksmitteln der Betroffenen. Zunächst dachte ich an Textilien. Doch dann sah ich im Museum fantastische alte Tongefäße mit Figuren und fragte, ob die Leute das immer noch könnten. Erst hieß es: nein. Dann aber bat ich eine Frau in unserem Dorf, das Motorrad aus Ton zu formen. Und es klappte!“ So hat denn das halbe Dorf eine Art Drehbuch geschrieben und es in Ton geformt: wie der verrückte Deutsche kommt, die versandeten Brunnen sieht, wie er eine Lösung findet – und was alles möglich wird, wenn Wasser fließt. „Da kam eine ganze Wassermythologie zum Vorschein“, berichtet Sethi, „mit Göttinen und Geistern. In Bolivien legen sie zum Beispiel Musikinstrumente an die Ufer der Flüsse, damit sie besser klingen.“

Im Höhlenlabyrinth der Expo wird daraus ein postmodernes Krippenspiel. Für die Beteiligten hat das Thema jeweils eine derart fundamentale Bedeutung, dass ihre Tableaus die Form zeitgenössischer Mythen annehmen. Mal als lehrhaftes Modell, mal als schamanistische Beschwörung schildern sie, wie Elektrizität nach Tibet kommt, ein Augenarzt in den Sudan oder Hygienebinden zu armen Frauen nach Bangladesh. Jede Gruppe hat andere Materialien verwendet: Lehm, Glas, Eisen, Abfall, Pappmaché, aber auch Fotografie und Video. Nach der Schau in Hannover gehen die Installationen zurück an die Dörfer.

Über sein Alter schweigt Sethi sich aus – sagen wir zwischen fünfzig und fünftausend, Körper und Geist zusammengenommen. In Indiens Unabhängigkeit hineingeboren, wuchs er als Kind wohlhabender, den Ideen Gandhis nahe stehender Eltern im Kaschmir auf. Früh schon erkor er sich Saraswati, die Göttin des Lernens, zum Idol; ihr Emblem, der Schwan, ziert bis heute sein Schreibzeug. Er studierte Geschichte und von allem etwas. In souveränem Eklektizismus zitiert er aus den altindischen Veden ebenso wie aus den Schriften Derridas. Selbst mit unbändiger Gestaltungslust gesegnet, setzte er sich über Jahrzehnte für die Förderung des traditionellen indischen Handwerks und Kunsthandwerks ein.

An der Schau in Hannover haben er und seine Mitarbeiter über zwei Jahre lang gearbeitet. Schon die Reisen, meint er, seien selbst schöpferische Prozesse gewesen, Zufall und Intuition hätten eine große Rolle gespielt. „In Mexiko sind wir bei Oaxaca einmal falsch abgebogen und in einem Dorf von Tomatenbauern gelandet. Es stellte sich heraus, dass die Familien dort in ihrer Freizeit ganz entzückende Figuren schnitzen.“ Im Handumdrehen wurden sie für Hannover engagiert und fertigten ein Triptychon zum Thema saubere Luft.

Die Ausstellung will herausfinden, was der Mensch zum Leben braucht. Das, was gewährleistet sein muss, damit die Gattung wie das Individuum eine Zukunft haben. Er könnte dazu eine lange Liste aufsagen, meint Sethi, „angefangen von Nahrung, Kleidung und Behausung, Freiheit und Freizeit, Sex, Kommunikation und so weiter“. Sie hätten fast 2.000 Bücher zu diesen Themen ausgewertet – auch das ein Grundbedürfnis: Wissen. Aber nicht um soziologische Definitionen wäre es ihm zu tun gewesen, sondern darum, dass die Besucher sich selbst Rechenschaft über die Grundlagen ihrer Existenz ablegen. „Wir fragen uns viel zu selten: Was brauche ich wirklich, worum geht es im Leben? Unsere Sinne sind geschrumpft, und unser Verstand quasselt mehr, als dass er denkt.“

Im Laufe der letzte Monate hat sich die große, leere Ausstellungshalle zur Erlebnislandschaft gewandelt. Am Eingang erwartet die Besucher ein „Netz der Hoffnungen“, sie haben einen Wunsch für die Welt frei. Im Hotel Paradiso und im Hotel Abgrund werden sie mit Utopien und Apokalypsen konfrontiert. Eine Art Supermarkt karikiert die Exzesse der Konsumgesellschaft. Weitere Zonen sind den fünf Sinnen und den fünf Elementen gewidmet oder dem Kreislauf des Lebens.

Manche der Installationen muten auf den ersten Blick liebenswert harmlos an. Doch Sethi beharrt auf dem evolutionären Potenzial der darin aufgehobenen Fantasie. „Es gibt dieses Paradox zwischen Armut und Kultur. Gerade die ungeschulten Künstler und Handwerker haben aus der Begrenztheit ihrer Mittel heraus oft fantastische Lösungen gefunden. Die mussten mehr aus weniger machen – das fasziniert mich, dieses Genie der Beschränkung.“ Ihre Majestät, die Fantasie. „Es wäre völlig falsch, unsere Ausstellung als eine folkloristische Show anzusehen. Wir stellen die Kreativität selbst aus.“

Womöglich ist auch das Ausstellen, das Zeigen selbst ein Grundbedürfnis? „Unbedingt!“

STEFAN SCHOMANN

Das ausführliche Interview mit Rajeev Sethi ist im Katalog zum Expo-Themenpark nachzulesen; Verlag Springer, Wien, New York, zwei Bände, je 240 Seiten broschiert, zu je 46 Mark

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen