: Kunstwerke statt Antidepressiva
■ Von Amerika lernen heißt nicht immer siegen lernen. Die Philosophin Agnes Heller befürchtet, dass die Amerikanisierung der Welt Europa um sein kulturelles Selbstverständnis bringen könnte. Was in erster Linie der Pharmaindustrie gefallen dürfte
„Braucht die Demokratie eine kulturelle Elite?“ – eine Frage, der Agnes Heller am Montag in Bremen einen Vortrag widmete. Auf Einladung von Bündnis '90/Die Grünen war die in Budapest geborene und seit 1985 an der „New School for Social Research“ in New York lehrende Philosophin an die Weser gekommen. Agnes Heller war Schülerin des marxistischen Literaturhistorikers und Philosophen Georg Lukács und hat sich in ihrem facettenreichen Werk immer wieder mit politischen, ästhetischen, ethischen und kulturellen Fragen beschäftigt. In einem Gespräch mit der taz erläutert die 71-Jährige ihr positives Verständnis eines kulturellen Elitebegriffs und erklärt, warum die Finanzierung elitärer Kunstwerke zu den wesentlichen Aufgaben des Staates zählt.
taz: Sie plädieren für die Vorstellung einer „kulturellen Elite“ in der Demokratie. Warum?
Agnes Heller: Die Erfahrung lehrt, dass von kulturellen Eliten initiierte Debatten maßgeblich dazu beigetragen haben, Demokratisierungsprozesse zu befördern. Insofern sich interessierte und gebildete Menschen in freier, öffentlicher Rede über gesellschaftlich wichtige Fragen zu verständigen suchen – in diesen Haltungen sehe ich die Hauptmerkmale einer kulturellen Elite – beeinflussten sie die Phantasie, die Einbildungskraft und die Interessen der breiten Bevölkerung und veränderten schließlich auch ihre Denkweisen.
Sie argumentieren historisch – aus dem Gefühl heraus, dass dieser Dialog zwischen Elite und Bevölkerung nunmehr bedroht ist?
Meine Beschreibung bezog sich auf den europäischen Kontext, wo es dieses Wechselspiel zwischen kultureller Elite und Bevölkerung seit Jahrhunderten gibt. In den Vereinigten Staaten, wo ich lebe und arbeite, war diese Verbindung hingegen niemals unproblematisch. Im Gegensatz zu Europa gibt es in den USA seit zweihundert Jahren Kapitalismus und Demokratie, und die kulturelle Elite steht dort seit jeher unter Verdacht, den sakrosankten Werten des zunehmend entwickelten, globalen Kapitalismus nicht vorbehaltslos zustimmen zu wollen. Diesem Generalverdacht ist es wohl auch geschuldet, dass sich in den USA im Grunde nie eine wirkliche kulturelle Elite hat entwickeln können. In Europa ist das anders. Aber auch hier gerät die kulturelle Elite zunehmend ins Visier. Sie ist zweifach bedroht: Vom Kapitalismus, weil sie dessen Hunger nach immer neuen Waren nicht zu bedienen vermag. Und von der Demokratie selbst, die gegen die Vorstellung einer Elite, egal welcher Provenienz, immer schon eine tiefe Skepsis gehegt hat.
An welchen Phänomenen machen Sie ein solches Bedroh-ungsszenario fest?
Nehmen Sie die USA: Ein gebildeter Mensch, der dort an einem kulturellen Diskurs teilnimmt, wird wirklich nie ins TV oder Radio eingeladen, um dort anlässlich einer aktuellen politischen oder kulturellen Entwicklung seine Meinung zu erläutern, was in Europa doch noch immer der Fall ist. In den USA werden Menschen aus der kulturellen Elite verächtlich als „Eggheads“ bezeichnet. Warum? Weil sie als unnütze Leute betrachtet werden, die Sachen machen, die keiner versteht und die vor allem – das ist der größte Vorbehalt – keinen quantitativen Output erzeugen. Die Mehrheit bedarf dieser Leute nicht. Sie bringen kein Geld ein und sie tragen nicht zum ökonomischen oder technischen Fortschritt bei. Gerade weil sie all diesen Kriterien nicht genügen wollen, ziehen sie innerhalb einer Gesellschaft, in der kaum andere als diese Kriterien für wertvoll erachtet werden, enorme Aggressionen auf sich. Und was machen diese „Eggheads“? Sie diskutieren auch noch über solche unnützen Fragen wie den Sinn des Lebens und der Existenz, über die Dimension der Sinnlichkeit, über Geschmack, Liebe, Würde.
Ist die kulturelle Elite für Sie deckungsgleich mit dem, was man „Bildungsbürgertum“ nennt?
Nein. Im entwickelten Kapitalismus gibt es keine Klasse mehr, die als „Bürgertum“ identifiziert werden könnte. Bürger sind inzwischen alle, es ist eine Massenbewegung geworden, der jedes elitäre Moment abgeht. Kulturelle Elite meint demgegenüber etwas anderes: Um dazu zu gehören, bedarf es einer Attitüde, einer Bereitschaft, an Gesprächen aktiv teilnehmen zu wollen. Man ist nicht nur passiver Genießer kultureller Angebote, sondern reflektiert sie, verändert und verfeinert daraufhin seinen Geschmack, sein emotionales Erleben. Das darf nicht in narzistischer Weise geschehen, sondern dialogisch in dem Bewußtsein, dass die Auseinandersetzung mit diesen kulturellen Angeboten die Möglichkeit birgt, etwas Neues über sich erfahren zu können.
In einer kapitalistischen Demokratie sind nun diese von Ihnen beschriebenen Werte, die eine kulturelle Elite zu verkörpern sucht, prinzipiell gefährdet?
Ja, denn sowohl Kapitalismus als auch Demokratie sind an Quantitäten interessiert. „How much and how many?“, das sind ihre zentralen Fragen. Die kulturelle Elite ist daran nicht interessiert. Für die Verfeinerung des ästhetischen Urteils ist es unerheblich, wie viel der Mensch verdient, dessen Geschmack sich gerade ausbildet. Und es interessiert auch nicht, wie viel der Künstler verdient, dessen Werk dazu anregt. Diese Haltung findet aber immer weniger Akzeptanz...
Bezeichnen Sie die kulturelle Elite deshalb in Ihren Texten als „Alien“, als bedrohte Spezies?
Sie ist eine bedrohte Spezies, aber zumindest in Europa nicht tödlich bedroht. Sie ist bedroht, insofern sie ein Fremdkörper in modernen Gesellschaften darstellt, die unter dem ökonomischen Effizienzdiktat stehen. Aber manchmal wird es denen, die der kulturellen Elite feindlich gegenüber stehen, einfallen, dass auch sie sie brauchen. Ich erzähle Ihnen ein kleines Beispiel: Vor zwei Wochen habe ich ein Bild von Marcel Proust mitsamt einem dazu gehörigen Leitartikel auf der ersten Seite der New York Times gesehen. Der Grund: Proust wurde seit 1922 in niedriger Auflage durchgehend verlegt, während Bestseller, die 1922 eine Millionenauflage erlebt haben, nie wieder aufgelegt worden sind. Das heißt: sie entdecken, dass es da tatsächlich etwas gibt, was seinen Wert nicht im Moment verliert, sondern über lange Zeiträume Gültigkeit für die Menschen besitzt und nicht in quantitativen Größen messbar ist. Eine andere Temporalität, ein qualitatives Empfinden – es ist das, was die schwindende kulturelle Elite noch lebendig hält und das die immer mächtigere, ressentimentgeladene ökonomische Elite nicht länger zu akzeptieren bereit ist.
Worauf begründet sich der qualitative Unterschied zwischen Proust und einem in Vergessenheit geratenen Millionenseller?
In einem Sinne ist es doch wahr: Wenn alle Menschen gleich geboren und mit Vernunft und Sinnen ausgestattet sind, dann ist jedes darauf basierende Geschmacksurteil gleichwertig. Und doch gibt es Leute, die darauf beharren, dass Shakespeare und populärer Bühnenschwank nicht in gleicher Weise wertvoll sind. Warum? Weil es Unterschiede im Niveau und im Wert von Kunstwerken gibt, die es anzuerkennen gilt und um die wir auch instinktiv wissen...
Das ist heutzutage aber kein gutes Argument mehr...
Nein, weil es den quantitativen Kriterien des „How much and how many“ nicht genügt. Aber nichtsdesotrotz bleibt es wahr. Es bleibt das existenzielle Gefühl, dass es eine andere Temporalität gibt als die absolute Gegenwart, es bleibt das Gefühl, dass es einen anderen Wertmesser gibt als die Quantität, und es bleibt das Gefühl, dass die Größe eines Kunstwerks nicht per Mehrheitsentscheid bestimmbar ist. Und meine Frage bleibt, ob Europa sich seine kulturelle Elite und damit sein Wissen um eben diese zuvor beschriebenen Phänomene erhalten oder ob es nordamerikanische Verhältnisse übernehmen will.
Ist es die Aufgabe des Staates, diese Elite zu stützen?
Der Staat muss die kulturelle Elite ernst nehmen. Denn die kulturellen Werke, die durch den Markt und durch die Demokratie verteilt werden sollen, werden sowieso verteilt, sie brauchen keine finanzielle Unterstützung mehr. Aber die bedeutenden, geschmacksbildenden, langfristig wirkenden Werke bedürfen der finanziellen Unterstützung. Ansonsten können die darin involvierten Künstler ebeno wenig wie die aktiven Rezipienten ihre schöpferischen Tätigkeiten fortführen. Gutes Theater oder gute Musik im Sinne der kulturellen Elite entsteht nicht ohne diese staatlich garantierte Basis. Nur was im Sinne der kulturellen Elite gut ist, braucht staatliche Unterstützung. Und gerade deshalb wird die kulturelle Elite auch von der Unterhaltungsbranche gehasst. Denn ihre Sachen kann man ohne Staatsfinanzierung verkaufen, so wie man jede andere Ware auf den Markt verkaufen kann, und das macht sie überheblich und ressentimentgeladen gegenüber allen, denen das nicht gelingt und die trotzdem zugleich behaupten, sie produzierten kulturell gehaltvolleres.
Woher rührt Ihre Gewissheit, dass es den Menschen nach derart elitären Produkten dürstet?
Meine Gewissheit speist sich aus dem Wissen um die Bedürfnisse des Menschen. Menschen haben doch nicht nur das Bedürfnis nach Geld. Sie haben auch das sehr tiefe Bedürfnis nach Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und weshalb sie überhaupt auf der Welt sind. Sie haben ein Bedürfnis nach Geschmacksbildung und emotionaler Verfeinerung. Nicht alle haben dieses Bedürfnisse, die ich radikale Bedürfnisse nenne, aber zumindest einige. Und für die muss der Staat sorgen, weil es der Markt nicht tut.
In den USA existiert aber nach Ihren Aussagen keine kulturelle Elite. Haben die US-Amerikaner also keine radikalen Bedürfnisse?
Natürlich haben sie sie. Aber wenn sie von derartigen Bedürfnissen heimgesucht werden, greifen sie wie die Hälfte der amerikanischen Mittelklasse zu Antidepressiva, gehen zum Psychoanalytiker oder in irgendeine religiöse Sekte. Das sind marktförmige Angebote, maßgeschneidert für radikale Bedürfnisse. Aber sind das auch die angemessenen Antworten auf diese Bedürfnisse? Fragen: Franco Zotta
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