Morbider Gaumenreiz

Von Menschen und anderen Meerschweinen: „. . . und ab die Post 2000!“ im Postfuhramt an der Oranienburger Straße zeigt die eher simple Kombination aus Nervenkitzel und Spaß

von AURELIANA SORRENTO

Der Mensch ist eine Quasselstrippe. Zumindest im alten Postfuhramt an der Oranienburger Straße. Dort hat Peter Welz acht Betonsäulen aufgestellt, in denen auf Kopfhöhe komisch breit gezerrte Münder eingegossen sind. Der Reihe nach sprechen sie Laute aus, die sich zum berühmtem „Ecce homo“ zusammensetzen. Ein monotones, nervenzehrendes Gequake. Mit Nietzsche hat das Werk wenig zu tun, eher kann man es als kartesianische Abweichung wahrnehmen: Ich spreche, also bin ich. Was angesichts des Resultats einer zumindest zweifelhaften Selbstvergewisserung gleichkommt.

Trotzdem schwebt die welzsche Idee quasi wie das implizite Schlagwort über dem 4. Festival junger experimenteller Kunst, das mit dem Titel „. . . und ab die Post 2000!“ von der aktionsgalerie im Postfuhramt veranstaltet wird. Festivalleiter Johann Nowak bevorzugte Kunst, bei der das Experiment im Verborgenen bleibt, die aber klipp und klar und öfter auch laut ihre Message rüberbringt. Am Eingang lautet die Botschaft „Lebe! Sei Lebendig“, und sie wird von Takahiro Suzuki zugegebenermaßen schweigend, aber tausendfach auf Reispapierblätter geschrieben. Da der japanische Aktionskünstler die Aufforderung in seiner Muttersprache formuliert, in der sie „Ikiro“ heißt und deren Schrift für den Durchschnittseuropäer sowieso nicht entzifferbar ist, dürfte sich der Festivalbesucher allerdings nicht zu aufdringlich zur Lebendigkeit gerufen fühlen.

Andernfalls bekäme er gleich eine kalte Dusche: Vom Eingang wird man über den Ausstellungsparcours in die Attrappe eines Todestraktes eingeschleust. An den Wänden des parzellierten Raums hängen Leuchtkästen mit Fotos werbeprächtig angerichteter Mahlzeiten, die sich Todeskandidaten als „final meals“ wünschten. Ausführliche Angaben über die Exekutierten, das von ihnen begangene Delikt und dessen Opfer liefern Personalbögen in Glasscheiben, die man seitlich der Leuchtkästen herausziehen kann. Plakativer hätte die Schweizerin Barbara Caveng den Widerspruch zwischen dem lebenserhaltenden Ritual der Nahrungsaufnahme und seiner Pervertierung in der Todeszeremonie nicht ausdrücken können.

Überhaupt stehen das Morbide und der Gaumenreiz im Vordergrund. Von der ulkigen Gartenparty, auf der ein dänisch-ungarisches Gericht zur Völkerverständigung aus blutrotem Paprika und Spielzeugtrümmern angerichtet wird (im Videofilm des Ungarn Hajnal Németh und des Dänen Peter Land), reicht das Menü bis zu den formalineingemachten Tieren Iris Schiefersteins, bei denen sich einem der Magen umdreht. In stinkende Aquarien hat die Künstlerin Miniaturmonster getaucht, die aus zusammengenähten Tierleichenteilen bestehen und weder ihre britischen noch ihre mythologischen Vorbilder verhehlen. Vermutlich geht es um die Binsenweisheit, dass Tod und Schöpfung sehr nah beieinander liegen.

Die Rückbesinnung auf den Menschenaffen im Menschen hingegen sucht Jun Shibata über den Umweg des Meeschweinchens. In einem Glaskäfig hat der Japaner einen überdimensionalen plüschigen Stoffzwitter zwischen Labortier und Baby platziert. Rechts vom Kasten leuchtet neonblau der Hinweis: „I'm your son“ – was in diesem Kontext nur als Hommage an den frühen Lynch verstanden werden kann –, und unter der Riesenpuppe tummeln sich echte Meerschweinchen.

Bei einem Festival, das erklärtermaßen die Verbindung von Hoch und Pop anstrebt, sind Empfindungscocktails selbstverständlich erwünscht. Mit einigen Ausnahmen – Karin Kerkmanns rot funkelnden Fotoaufnahmen von Körper-Innenräumen zum Beispiel, oder Reinhard Kühls hinterlistig nachgestellte Ikonen der Kriegsfotografie – wird einem allerdings die eher simple Kombination aus Nervenkitzel und Spaß verabreicht. An einer videogestützten Liebes- und Mutprobe, einer Freier-Fall-Simulation, einem pseudomedienkritischen Arrangement und unterschiedlichem Multimedia-Allerlei vorbeischlendernd, gelangt man schließlich bei Iepe B. T. Rubingh zum Partyclou. Vergangenes Jahr hat der Niederländer den Hachikoplatz in Tokio und den Hackeschen Markt in Berlin mit Absperrband abgeriegelt. Den Aktionen folgten jeweils eine Narrenshow in mittelalterlichem Kostüm und die Verhaftung des Künstlers, der glücklicherweise in beiden Fällen mit einer Geldstrafe davonkam.

Im Postfuhramt ist nun die komplette Foto- und Videodokumentation beider Performances zu besichtigen. Für Tokio lief die Narrenfreiheit unter dem Motto: „I'm very sorry“, said the joker to the shogun, „but this is funny, isn’t it?“ Ziemlich genau das, was über die Kunst beim 4. Festival jünger experimenteller Kunst noch zu sagen bliebe.

Bis 2. 6., tägl. 11–22 Uhr, Postfuhramt, Oranienburger Ecke Tucholskystraße