die falsche nase des bergmanns kranowski von JÜRGEN ROTH
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Der Bergmann Gustav Kranowski erwachte. Der Himmel schimmerte rötlich. Blaue Schlieren schoben sich über das Aquarell. Es war kurz nach sechs, vielleicht etwas später. Kranowski warf die Decke zur Seite, gähnte, stand auf und ging in die Küche. Die Woche begann.

Am Tisch saß seine Frau. Sie umklammerte eine Schüssel dampfenden Kaffee und wärmte die Hände. Ihr Haar fiel schlaff, der ausgeblichene Morgenmantel hing missmutig herunter.

„Ich weiß, es ist spät geworden gestern“, sagte Kranowski und goss sich einen Becher Kaffee ein. Er verschwand, erledigte hastig die Morgentoilette, nahm den braunen Mantel vom Haken und ließ die Haustür zufallen.

Kranowski hörte sie noch schimpfen. „Spitzbube! Trunkenbold! Geh heute bloß wieder zu Moni. Herumtreiber, elender! So ein Halunke, so ...“, und die Stimme wurde immer undeutlicher. Moni hieß Kranowskis Stammkneipe, „Monis Pilsstube“.

Im Bus musste Kranowski an gestern Abend denken. Er wusste durchaus nicht mehr, ob er betrunken gewesen war oder nicht. Er hatte, überlegte er, auch nichts zu verheimlichen. Weshalb sollte er ihr was erzählen? Er besaß ja nicht die geringste Erinnerung. Von der flüchtigen Tresenbekanntschaft? Der Friseuse mit dem Pferdegebiss?

Oberhalb der Schläfen pochte es stärker. Kranowski stieg aus, strich sich durchs ungekämmte Haar, griff die Ledertasche fester und querte die Straße. Im Kabuff, einem Glaskasten, lehnte Maier lässig am Aktenschrank. „Wie war Ihr Wochenende?“, fragte er. Offenbar erweckte Kranowski Anteilnahme. Mitleid konnte er jedoch nicht gebrauchen. Außerdem schien ihm, dass Maier etwas ganz anderes meinte. Wirkte er wirklich kaputt?

Kranowski entnahm dem Gemeinschaftskasten ein Selters und machte wortlos kehrt. Ein Blick in den Spiegel würde Klarheit bringen. Auf dem Weg zum Waschraum traf er den lästigen Finsterer. „Lange nicht gesehen“, flötete er, gerade aus dem Nordseeurlaub zurück. Kranowski wollte bereits antworten: „Na, Sie sind aber schön braun geworden.“ Finsterer. Gott sei dank, fühlte Kranowski, bin ich dir so lange nicht mehr über den Weg gelaufen. Vor der grauen Tür der Kaue zitterten plötzlich Kranowskis Arme und Beine. Die Tasche fiel zu Boden. „Kann ich helfen?“, hörte Kranowski eine weibliche Stimme. Er sammelte alle Kraft und erwiderte: „Ach nein, ist nicht nötig.“ Sie wünschte eh nur, dass er Nein sagte.

Hauer Kranowski hatte ein Gespräch beim Betriebsrat. Hoher Krankenstand, zuletzt häufige Verzögerungen während des Ölens der Loren. Schwindelanfälle. Ein Zwicken im Brustkorb. Er verschob den zweiten Selbstbesichtigungstermin und eilte zum Büro von Kumpel Kaiser, der ihn ermahnte, seine Arbeit gewissenhafter zu erledigen, andernfalls kämen größere Schwierigkeiten auf ihn zu. „Keine Sache, ich schaffe das schon“, krächzte Kranowski und murmelte, der Leuteschinder könne ihn mal.

„Ihre Nase, Herr Kranowski, läuft rot an. Verbergen Sie eine schlimme Geschichte? Möchten Sie darüber reden?“ Nein, dachte Kranowski, kratzte sich am verräterischen Körperteil und verließ den Raum. Er hatte ehrlich Probleme zu verstehen, was diese Fragen sollten.