cannes, cannes: Catherine Deneuve sitzt melancholisch in der Ecke und bellt
MUSIK IST TRUMPF
Müsste man dem diesjährigen Cannes-Programm eine Überschrift geben, dann wohl den Titel der schmalzigen Peter-Frankenfeld-Show aus den Siebzigerjahren: „Musik ist Trumpf“. Nicht nur dass amerikanische und dänische Musicals oder koreanische Opern den Wettbewerb des Festivals bevölkern, die Musik als Bildungskanon und Verständigungscode spielt auch dort eine Rolle, wo man sie eigentlich nicht unbedingt erwarten würde. Da sitzen zum Beispiel in „Yi-Yi“, dem Film des Taiwaners Edward Yang, zwei Videospielproduzenten im Auto, und der eine stellt das Radio an – Oper. „Ach ja“, meint sein Kompagnon wie aus der Pistole geschossen, „die große Renata Tebaldi.“ Auch ansonsten ist Taipeh eine musikalische Stadt. Da summen siebzehnjährige Mädchen Schostakowitsch-Walzer und erinnern damit an Kubricks „Eyes Wide Shut“, während sich schüchterne Geschäftsmänner plötzlich als begeisterte Jazzpianisten entpuppen. In „O Brother, Where Art Thou?“, dem Musical der Coen-Brüder, wird die Countrymusik zum umfassenden Heilmittel gegen Rassisten, Reaktionäre, Zyklopen und andere Unbilden des Lebens.
Das durchgeknallteste und gewagteste Musical hat natürlich Lars von Trier gedreht. Gleich die erste Szene gibt den Ton an. Bei der Musicalprobe eines Amateurtheaters stellt Catherine Deneuve geistesabwesend einen Teller mit Spagetti auf Björks Kopf. Als sie dafür vom Regisseur gerügt wird, setzt sie sich melancholisch in die Ecke und bellt einmal kurz.
Noch nie hat von Trier die Schere der filmischen Repräsentationsmittel so weit auseinander getrieben wie in seinem neuen Film. „Dancer in the Dark“ ist gleichzeitig größtmögliche Stilisierung und präziser Realismus, exzentrisches Melodram und luzide Abrechung mit einem reaktionären Amerika, Musical und zutiefst moralische Abhandlung, Pop und Passionsgeschichte. Björk (Foto) spielt die junge Arbeiterin Selma, eine Einwanderin aus der Tschechoslowakei, die sich und ihren zwölfjährigen Sohn in einem amerikanischen Provinzkaff mehr schlecht als recht über die Runden bringt, solidarisch unterstützt von ihrer besten Freundin Kathy (Catherine Deneuve). Selma ist dabei, langsam zu erblinden, und spart für die Operation ihres ebenfalls augenkranken Sohnes. Wenn die digitale Handkamera um das blasse Gesicht der isländischen Sängerin kreist, ihren schicksalergebenen Gängen zur Fabrik folgt, wenn sie nüchtern das bescheidene Leben in dem kleinen Wohnanhänger registriert, dann setzt sich nach und nach aus Handgriffen, müden Gesten und Maschinenlärm eine ganze mühsame Arbeiterexistenz zusammen. Gleichzeitig bricht von Trier seinen realistischen Blick durch die idyllische Semantik der Hollywood-Musicals. Mit dem rhythmischen Stampfen der Maschinen driftet Selma tagträumerisch in Tanzszenen hinüber, die ihr Leben als Märchen weitererzählen.
Während viele Regisseure dieses Festivals nicht einmal in der Lage sind, eine einzige Szene stimmig zu erzählen, verbindet Lars von Trier diese auseinander brechenden Stilelemente, Ästhetiken und Stimmungen zu einer paradoxen Tragödie. Paradox, weil sie hemmungslos traurig, tragisch und bewegend ist, ihre eigene Tragik dabei aber wiederum transzendiert. „Ich mag Musicals, weil in ihnen nie etwas Schlimmes passiert“, so Selmas Schlüsselsatz. In „Dancer in the Dark“ passiert es trotzdem. Und Lars von Trier weiß, in welchem Augenblick nicht nur Musicals, sondern überhaupt filmische Mittel nichts mehr zu sagen haben. Der Rest ist Schweigen bzw. schwarze Leinwand.
KATJA NICODEMUS
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