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: EUROPÄISCHER SCHLENDRIAN

Alle sechs Monate veröffentlicht die EU-Kommission ihre Top Ten der säumigen Binnenmarktmitglieder. An den Pranger gestellt wird, wer die EU-Direktiven, die den Gemeinsamen Markt regeln, nicht in nationales Recht umgesetzt hat. Bislang war die Tendenz ermutigend. Doch jetzt musste Binnenmarkt-Kommissar Frits Bolkestein eine Trendwende bekannt geben. Erstmals ist der Prozentsatz der Richtlinien, die nicht in nationales Recht umgesetzt wurden, gestiegen. Während sich in den Vorjahren die Verhältnisse in der Union kontinuierlich angenähert haben, driften die Mitgliedsstaaten jetzt wieder auseinander.

Ganz oben auf der schwarzen Liste steht Griechenland, Portugal und Frankreich folgen. Paradigmatisch auch die deutsche Umsetzungsbilanz. Sie verschlechterte sich gegenüber dem Vorjahr um ein volles Prozent. Ein besonders krasses Missverhältnis zeigt sich bei den Direktiven, mit denen die Europäische Kommission die Herausforderungen der Informationstechnologie meistern will. Sie finden sich bislang in keinem einzigen nationalen Gesetzesblatt. Der europäische Binnenmarkt bleibt damit Stückwerk.

Das rächt sich, nicht nur auf wirtschaftlicher Ebene. Auch in den Köpfen der Bevölkerung sind die Regeln des Binnenmarkts ein Buch mit sieben Siegeln. Täglich erreichen die zuständige Generaldirektion Anfragen, die deutlich machen, wie wenig der Binnenmarkt in den Köpfen der Menschen verankert ist. Muss ich für den aus einem anderen EU-Land eingeführten Videorekorder bei der Rückreise in mein Heimatland Zoll bezahlen? Kann ich Ehegattensplitting beim deutschen Finanzamt beantragen, obwohl mein Partner in Luxemburg wohnt? Kann ich meine kaputte Hüfte in Dänemark auswechseln lassen und in Deutschland die Rechnung einreichen?

Verantwortung hierfür tragen auch die europäischen Politiker, die dem Binnenmarkt nicht den Stellenwert einräumen, den sie ihm in öffentlichen Bekenntnissen zubilligen. Großbritannien und Luxemburg beispielsweise widersetzen sich hartnäckig einer einheitlichen europäischen Zinssteuer. Die Finanzminister selbst führen alle paar Wochen vor, dass sie den Binnenmarkt nur in den Bereichen akzeptieren, der keine Opfer von ihnen verlangt. Wenn die Brüsseler Vorgaben aber nicht mehr ernst genommen werden, gräbt Europa sich selbst das Wasser ab.

DANIELA WEINGÄRTNER

wirtschaft und umwelt SEITE 8