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Reich an Zeit

Über Zeit kann man stolpern oder mehr davon bekommen. „Stolpersteine – Zeitzeichen“ illustrieren EXPO-Projekt  ■ Von Sandra Wilsdorf

Zeit für eine Pause. Kurz mal auf diese Bank setzen. „Verlieren Sie keine Zeit“, quengelt eine Stimme, leise und schnell wie eine Platte mit zu hoher Geschwindigkeit. Penetrant, antreibend. „Verlieren Sie keine Zeit.“ Eine Bank, die sprechen kann? Nein, ein Stolperstein. Eines von 15 Zeitzeichen, über die seit gestern fällt, wer zwischen Kennedybrücke und Schöner Aussicht an der Alster entlanghastet oder rastet. 15 StudentInnen der Hochschule für Bildende Künste haben ihre Ideen zum Thema „Zeiten der Stadt“ umgesetzt.

Außer der beinemachenden Bank stehen da beispielsweise vier Uhren, die zeigen, dass die Zeit beim Küssen rast, beim Erinnern rückwärts geht und die normale Zeit eine Suche ist. Auf grünen Schildern steht in gelber Schrift nicht das übliche „Betreten des Rasens verboten“, sondern Lyrisches oder „Noch 5 Minuten“. Beschriftete Fußmatten liegen an der Alster und im Ortsamt Barmbek-Uhlenhorst. Darauf stehen die Hobbys der Beamten . Das soll genervte Besucher daran erinnern, dass sie es mit Menschen, nicht mit Zeitdieben zu tun haben. An Alster und U-Bahnstationen fordern Plakate „eiliger verweilen“, „rasanter ruhen“.

Die „Stolpersteine – Zeitzeichen“ liegen und stehen bis Ende Oktober an der Alster. Sie illustrieren das EXPO-Projekt „Zeiten der Stadt“. Das begann 1995 mit einer Befragung von Frauen in Barmbek-Uhlenhorst zum Thema Zeit. Davon haben sie natürlich zu wenig. Aber, wie Gleichstellungssenatorin Krista Sager gestern bei der Eröffnung der Ausstellung sagte: „Die Zeiten einer Stadt lassen sich verhandeln.“ Städtische Zeitstrukturen ließen sich aktiv gestalten, so dass am Ende jeder mehr Zeitwohlstand und damit eine höhere Lebensqualität habe.

So eine Verhandlung über Zeiten hat es in Barmbek-Uhlenhorst gegeben. Beispielsweise gibt es dort jetzt Schülermensen und Mittagstische für Kinder berufstätiger Mütter. Das Ortsamt vergibt Termine außerhalb der normalen Zeiten. 13 Ärzte und Zahnärzte haben die Öffnungszeiten ihrer Praxen erweitert. Beispielsweise behandeln der Internist Hannes Welcker und sein Kollege Bernd Krober jetzt montags bis 19, donnerstags bis 19.30 Uhr und außerdem Sonnabend vormittags. „Davon profitieren nicht nur Mütter, die ihre Kinder am Sonnabend bei den Vätern lassen, sondern auch beispielsweise Mitarbeiter von Werbeagenturen, die sich in der Woche nicht trauen zu kommen, weil sie um ihre Jobs fürchten“, sagt Welcker. Seine Praxis teilt sich den Wochenenddienst mit einer anderen. Geld gibt es dafür keines.

Ein anderes Angebot haben Väter geschaffen. Rund 13 Männer treffen sich jeden Sonnabend im Kinder- und Familienzentrum Barmbek-Uhlenhorst zu einer Vater-und-Kind-Gruppe. „Ich habe das gemacht, weil ich auch mal etwas mit meiner Tochter machen wollte“, sagt Holger Brants, einer der Väter. Und seine Frau habe mal ein paar Stunden für sich. Zeit, auf einer Bank zu sitzen, die sie nicht gleich weiter hetzt. Ein bisschen Zeitwohlstand eben.

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