Doppelherz aus Gold

Carlos Santana geht mit einer Wagenladung Grammys im Gepäck auf Tour, und Neil Young hat einfach mal wieder eine Platte aufgenommen: Wer liefert das bessere Modell zum Älterwerden?

von JÖRG FEYER

Sommer 1999. Nach siebenjähriger Plattenpause, überwundener Lebenskrise und einer Therapie, die ihn auch als missbrauchtes Kind aus der Vergangenheit holte, veröffentlicht Carlos Santana sein nach wie vor aktuelles Album „Supernatural“.

Die Kritik stöhnt auf: „Knallhartes Dollarkalkül“ vermutet nicht nur der Rezensent des deutschen Rolling Stone hinter der Kooperation des bald 53-jährigen Latin-Rock-Veteranen mit MusikerInnen und SängerInnen, die – Eric Clapton mal ausgenommen – allesamt seine Kinder sein könnten. Vor dem geistigen Auge saß gleich ein gewiefter Marketingmann am Telefon, um die Veranstaltung ebenso breit wie zielgruppenrelevant zu gestalten. Also: Dave Matthews für die Hippie-College-Kids, Rob Thomas von Matchbox 20 für die BWL-College-Kids, Everlast und Wyclef Jean für die Rap-Kids, Eagle-Eye Cherry für die aufgeschlossene Schwiegermutter und die unfehlbare Lauryn Hill für alle, die sich bisher noch nicht angesprochen fühlten. Und für die alten, treuen Fans, die ja auch nicht verprellt werden dürfen, ein abgehalftertes Saitenduell mit Clapton. Mittlerweile ist „Supernatural“ mit acht Grammys überschüttet, weltweit wie blöd verkauft, und nun kommt Santana auf eine garantiert umjubelte Tournee durch Deutschland.

So weit die zynische Sichtweise. Dass sie Carlos Santana traf, ist kein Zufall, sondern Resultat einer Karriere, die spätestens in den Achtzigerjahren stecken geblieben war zwischen Stagnation und Anbiederung. Oder anders: Als sein Altersgenosse Neil Young Mitte der Neunzig das Album „Mirrorball“ mit Pearl Jam einspielte und sogar mit dem Grunge-Ensemble (minus Eddie Vedder) tourte, war es verpönt, von Mammon und Berechnung zu sprechen. Nein, vom längst überfälligen Schulterschluss der Generationen war vielmehr die Rede, vom ewigen Rebellen, der endlich zu seinen jungen Bewunderern herabgestiegen ist.

Mit anderen Worten: Young, dem selbst die überflüssige Reunion mit Crosby, Stills & Nash sowie altersmilde Langeweile auf dem aktuellen Album „Silver & Gold“ großherzig vergeben werden, hat so was wie kommerzielles Kalkül gar nicht nötig. Santana schon. Als Young 1989 mit „Freedom“ nach dem verzweifelten Stil-Slalom der auslaufenden Dekade auch für eine jüngere Generation zur Ikone des Guten, Wahren, Rotzigen aufstieg und obendrein seine Wiedergeburt als Plattenverkäufer erlebte, war Carlos Santana immer noch nur zuständig für „Samba Pa Ti“, „Oye Como Va“ oder „Black Magic Woman“. Ein Mann mit nur einer Option: warten aufs nächste Revival. Dass er keine Lust mehr hatte, darauf zu warten, erscheint nur zu verständlich. Auftritt: Der gewiefte Marketingmann. Den gibt es tatsächlich. Und es ist ein alter Bekannter von Carlos Santana: Arista-Records-Chef Clive Davis, wohl der einzige Autokrat der alten Mogulschule, der bisher noch den neuen Music-Bizz-Bürokratien des Fusionszeitalters widerstehen konnte, hatte den jungen Gitarristen aus Mexico 1968 schon zu seinem damaligen Arbeitgeber Columbia geholt.

Als sie sich 30 Jahre später in einem Hotel in Los Angeles zusammensetzen, schwärmt Santana von den Popsongs des späten Miles Davis. Und soll auf Clive Davis’ Frage, was er denn jetzt genau machen wolle, geantwortet haben: „Ich möchte die Moleküle wieder mit dem Licht vereinen.“

Die spirituelle Nebelmaschine gehört seit 1972 zum rhetorischen Repertoire von Carlos Santana. Erschöpft und ausgebrannt – zu viele Drogen, zu viel Music-Bizz – suchte er damals Zuflucht bei Sri Chinmoy und spielte mit den Jazz-Fusion-Alben „Caravanserai“ und „Borboletta“ die eigene Vergangenheit an die Wand und die Verkäufe in den Keller. Zwar sagte sich Santana Anfang der Achtzigerjahre vom indischen Guru und dessen reaktionärem Moralkodex los. Doch der kosmische Überbau aus Träumen, Omen, Frequenz, göttlicher Fügung trägt den jetzt wieder geborenen Christen bis heute.

Seit Mitte der Neunziger vertraut er Metatron, wahlweise ein „Engel“, eine „Wesenheit“, ein „Architekt der Körperlichkeit“ oder auch einfach nur „ein gütiger alter Mann mit weißem Bart“. Rob Thomas, der mit „Smooth“ den entscheidenden Hit zu „Supernatural“ beisteuerte, glaubt zwar nicht mehr an den Weihnachtsmann, aber doch an „neue Perspektiven“, die ihm die Gespräche mit Santana eröffneten. „Man sollte nicht versuchen, Carlos zu zitieren“, gab Thomas noch zu Protokoll, „weil es nie so eloquent rüberkommt, wie er es gesagt hat.“ Und was sagte Metatron noch zu Carlos? Genau: „Wir wollen dich wieder auf Radioempfang bringen.“

Doch ob nun durchgeistigter Fingerzeig oder Direktive aus der Marketingetage: Funktionieren muss das nicht. Das macht die Plattenindustrie ja zu so einer zweifelhaften, selbstverliebten Unternehmung. Und so spannend. Dass alle vorgeben zu wissen, wie welche Zielgruppe an die Kasse zu bewegen ist. Und dabei alle eigentlich gar nichts wissen. Santana und sein Marketingmann wussten nur, dass die Götzen des Geschäfts heute vor den Radioempfang das Videoplay gesetzt haben.

Mit dem Clip zu „Smooth“ trafen sie den Nerv einer Zeit, die offen wie nie zuvor ist für Latino-Sounds mit Popappeal. Es ist heiß, eine Band spielt auf der Straße, Rob Thomas erfleht ein klares Bekenntnis seiner „Spanish Harlem Mona Lisa“, und schöne Frauen tun immerzu schöne Dinge. Doch es gibt da einen Moment, der die ganze cool kalkulierte Werbeästhetik durchbricht, ja transzendiert (um im spirituellen Jargon zu bleiben). Es ist der Moment, als sich ihm die Königskobra lasziv immer weiter nähert und Carlos Santana plötzlich seine Gitarre hochreißt, um mit verzücktem Lächeln seine kreisenden Hüften zur Schau zu stellen – ganz bei sich, ganz bei ihr, ganz bei uns.

Es ist eine in jeder Hinsicht entwaffnende Geste, die das ganze Gewese und Geraune um Gott und Geschäft für diesen Moment völlig obsolet macht und Carlos Santana noch mal ganz an den Anfang seiner Karriere zurückführt. Damals, in den Strip-Kneipen von Tijuana, habe er gelernt, seine Gitarre so zu spielen, „dass die Nippel der Frauen hart wurden“. Ob Neil Young das heute auch noch schaffen würde?

Neil Young: „Silver and Gold“ (WEA) Santana-Tour: 27. 5. München, 2. 6. Oberhausen, 3. 6. Hamburg, 4. 6. Ber- lin, 6. 6. + 7. 6. Stuttgart, 8. 6. Hanno- ver, 9. 6. Nürnberg, 10. 6. Nürburgring