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Voller Energie auf Atomkurs

Öffentlich kaum beachtet, legte Russlands Atomminister einehrgeiziges, teures Programm zum Ausbau der Atomwirtschaft vor

aus MoskauBARBARA KERNECK

Die russische Öffentlichkeit verfolgt zur Zeit die Sitzungen ihres Ministerrates ganz gefesselt von einer Neuordnung des Steuersystems, die dort verhandelt wird. Nur wenige Massenmedien registrierten überhaupt, dass am Donnerstag auf einer solchen Sitzung Russlands Atomminister Jewgeni Adamow ganz nebenbei ein neues Programm zur Entwicklung der russischen Atomenergie in den nächsten fünfzig Jahren vorgelegt hat.

In den Fernsehnachrichten hieß es allgemein, die Regierung habe „einige technische Fragen“ der Atomenergie diskutiert. Dabei ist das der taz in vollem Wortlaut vorliegende Programm nichts anderes, als ein Versuch, Russland in Hinsicht auf seine atomare Sicherheit und seinen entsprechenden Bewusstseinsstand für das nächste halbe Jahrhundert in die Vor-Tschernobyl-Ära zurückzukatapultieren. Allem Anschein nach wird dieser Versuch erfolgreich sein. Die Regierungsmitglieder waren von Adamows Vortrag begeistert und sagten ihm volle Unterstützung zu.

Einen gewaltigen Zuwachs an Atomenergie in Russland soll unter anderem der Bau von sechs neuen Atomkraftwerken garantieren. Insgesamt sollen sie dem Land fünfzehn neue Reaktoren vom Wasser/Wasser-Typ bescheren, mit einem Potenzial von je 1.000 Megawatttonnen (auf russisch WWER-1000). Da auch die meisten der bereits bestehenden zehn Kraftwerke um neue Reaktoren bereichert werden sollen, könnten wir dem Plan zufolge in den nächsten zwanzig Jahren 23 neue Atomreaktoren auf russischem Boden begrüßen.

Bis heute beträgt der Anteil des Atomstroms an der gesamten Elektrizitätserzeugung in Russland nur 14 Prozent. Dies ist wesentlich weniger als in vielen westlichen Ländern (in Frankreich sind es 76 Prozent, in Japan 36 Prozent und in den Vereinigten Staaten 19 Prozent). Das Land hätte also gute Chancen, sich von der Atomenergie völlig unabhängig zu machen, falls es seine veralteten Wasserkraftwerke modernisierte, alternative Energiequellen mobilisierte und mit einem Energiesparprogramm begänne. Stattdessen wächst der Energieverbrauch weiter. Und in zwanzig Jahren erwartet man gut 33 Prozent des benötigten Stromes von AKWs.

Die in Russland existierenden Atomkraftwerke wurden in den Jahren 1971 bis 1991 erbaut. Man teilt sie gewöhnlich in zwei Generationen ein, von denen jede bisher etwa dreißig Jahre lang arbeiten sollte. Nun heißt es aber in dem Dokument: „Atomkraftwerke sind kapitalaufwendige Projekte, deshalb sollten sie über eine lange Nutzungsfrist verfügen“. Weiter werden Gründe dafür angeführt, die Nutzung der Reaktoren der ersten Generation auf vierzig Jahre zu verlängern, und der Reaktoren der zweiten Generation auf fünfzig Jahre.

Mit einem Wort, was lang währte, ist gut. Man erhält durch das Dokument den Eindruck, dass russische Atomkraftwerke und krachlederne Reithosen über eine gemeinsame Eigenschaft verfügen: Mit einer gewissen Patina werden sie immer widerstandsfähiger. Die Autoren weisen darauf hin, dass Fälle außerplanmäßiger Reaktorabschaltungen in Russland der Statistik zufolge unter dem Weltdurchschnitt liegen. Fachleute melden aber Zweifel an den Statistiken des russischen Atomministeriums an.

Über den Grundton des Dokumentes schreibt die Tageszeitung Nowye Iswestija: „Es bezeugt den völligen und endgültigen Abschied von der Vorsicht, die unsere Regierungen bisher dem atomaren Sektor gegenüber wahrten und es zeigt, dass die Atomindustrie ihre ehemalige Macht voll und ganz wieder zurückerhält.“ Besonders beeindruckt die Augenwischerei, deren sich die Autoren in ihren Aussagen über die Folgen der Ansammlung atomarer Abfälle befleißigen. Wenn man dem Dokument glauben darf, ist dieses Problem in Russland völlig gelöst.

Dagegen weisen die Ökobewegungen des Landes immer wieder auf die haarsträubenden Zustände auf den Atommüllhalden des Landes hin. In einem Brief des damaligen Generalstaatsanwaltes Juri Skuratow an die Regierung vom Juni 1998 wurde auf die gravierenden Mängel bei der Lagerung und Wiederaufbereitung atomarer Abfälle im Lande hingewiesen. In keinem einzigen Atomkraftwerk Russlands – hieß es da, sei die Anlage zur Konditionierung der Abfälle noch intakt. Auf drei Wiederaufbereitungs-Unternehmen des Atomministeriums, in Tscheljabinsk, Tomsk und Krasnojarsk, befänden sich etwa 400 Millionen Kubikmeter Atommüll in offenen Gewässern.

Den Umgang mit diesen Abfällen will sich das russische Atomministerium in den nächsten dreißig Jahren 3,6 Milliarden Dollar kosten lassen. „Diese geringe Summe zeigt bereits, wie wenig ernst das Ministerium dieses Problem nimmt“, sagt Vladimir Sliwijak, ein Aktivist des Internationalen Sozial-Ökologischen Bundes. Aber das große Geld benötigt die russische Atom-Nomenklatura ja für andere Zwecke: für den Bau ihrer neuen und die Reparatur der alten Reaktoren. Dies soll 10 Milliarden Dollar in den nächsten zehn Jahren und weitere 20 Milliarden im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends kosten. Für den Bau der neuen Reaktoren – so heißt es in dem Papier diskret – spräche auch der Umstand, dass vielerorts bereits Baugruben ausgehoben wurden.

Und woher das viele Geld nehmen, wenn man es nicht stehlen will? Dafür hat sich Atomminister Adamow eine ganz elegante Lösung ausgedacht: Russland solle Haushaltsmittel sparen, indem es auf dem internationalen Markt die Lagerung des verbrauchten Brennstoffes ausländischen Atomkraftwerken anbietet.

Bisher ließ das russische Gesetz die Einfuhr atomarer Abfälle nur zu, falls diese aus von Russland erbauten ausländischen Atomkraftwerken stammten. Und auch in diesem Falle forderte es strikt die Wiederausfuhr nach deren Wiederaufbereitung.

Es ist kein Geheimnis, dass Minister Adamow seit langem als Lobbyist für die Abschaffung dieser Gesetze wirkt. Im letzten Frühjahr verschwor er sich zu diesem Zweck hinter dem Rücken seiner einheimischen Umweltschützer mit ausländischen Firmen. Adamows Stellvertreter Nikolaj Jegorow unterzeichnete damals mit Vertretern ausländischer Firmen, darunter der „Swiss Utility Elektrizitäts-Gesellschaft-Laufenburg AG“ eine Abmachung, derzufolge einige tausend Tonnen verbrauchten Brennstoffes bis zum Jahre 2030 gegen Zahlung von Milliarden Dollar nach Russland zur Wiederaufbereitung geschafft werden sollten.

Wladimir Putin endlich scheint der Regierungschef zu sein, der diese Gesetzesänderung umsetzt. Den Grund dafür liefert eine aus dem Streit zwischen den Vereinigten Russischen Elektrizitätswerken und dem Erdgasmonopolisten Gasprom erwachsene, schier unüberwindliche Energiekrise. Die Elektrizitätswerke können das Erdgas vielerorts nicht mehr bezahlen.

Die Gasgesellschaft hingegen vergießt bittere Tränen um jeden Kubikmeter ihres wertvollen Stoffes, den sie im Inland liefert, denn im Ausland bekommt sie dafür den sechsfachen Preis. Gasprom hat sich in letzter Zeit häufig gerächt, indem es in verschiedenen Regionen seine Lieferungen an die Elektrizitätswerke einstellte.

Die Stromausfälle erregen den Zorn des Volkes. Atomstrom, so rechnen nun die Vertreter des Ministeriums vor, sei – auch aus dieser Perspektive – um ein Vielfaches billiger als der aus Erdgas gewonnene. Außerdem erlaube es der vorliegende Plan, den Anteil des Gases als Ausgangsstoff für die gelieferte Elektrizität auf 20 Prozent ihrer Gesamtmenge zu begrenzen. Dabei soll die Elektrizität nicht drei- bis fünfmal teurer werden, wie bisher prognostiziert, sondern nur noch doppelt so teuer.

Die Atomenergie präsentiert sich somit als unschlagbar billig. Die Vertreter von Greenpeace Moskau und des Internationalen Sozial-Ökologischen Bundes weisen darauf hin, dass die Folgekosten für die schweren Unfälle in der Wiederaufbereitungsfabrik Majak 1957 und dem Kraftwerk von Tschernobyl, der Verlust der verseuchten Territorien und die bei weitem nicht regelmäßig überwiesenen Renten und Entschädigungszahlungen für Millionen von Opfern in diese Rechnung nicht eingehen.

Ebenso wenig wie die Kosten der Wiederaufbereitung der Abfälle. Das dicke Dokument des russischen Atomministeriums präsentiert uns also eine Milchmädchenrechnung.

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