: Umweltgeschichte universal
Joachim Radkau hat eine beeindruckend umfassende, gut lesbare und äußerst interessante Darstellung des Verhältnisses von Mensch und Natur geschrieben – und dabei mit vielen Mythen der Umweltbewegung aufgeräumt. Sein Buch setzt neue Maßstäbe
von FRANZ-JOSEF BRÜGGEMEIER
Es gehört zu den Gründungsmythen der modernen Umweltbewegung, dass sie quasi aus dem Nichts entstand, keine nennenswerten Vorläufer hatte und mit bis dahin ganz unbekannten Problemen konfrontiert war. Außerdem standen offensichtlich derart katastrophale Entwicklungen bevor, dass für einen Blick zurück wenig Zeit blieb. Mittlerweile wissen wir, dass diese Annahmen nicht zutreffen. Die Umweltbewegung hat Vorläufer, die weit mehr als einhundert Jahre zurückgehen; vergleichbare Probleme haben schon zuvor bestanden, und die vorhergesagten Katastrophen sind (bisher) nicht eingetreten.
Einer verbreiteten Auffassung zufolge haben Mensch und Natur früher in einem weitgehend harmonischen Verhältnis miteinander gelebt. Dazu, wann diese Harmonie gestört wurde, gibt es sehr unterschiedliche Angaben. Einige sehen den Sündenfall im Übergang zum Ackerbau, da Menschen nun verstärkt und systematisch in die Natur eingriffen; andere in der Entstehung der modernen Naturwissenschaften und wieder andere – eine Mehrheit – in der Industrialisierung. Eng verbunden mit diesen Auffassungen ist die Annahme, bei anderen Völkern und Kulturen habe es einen schonenderen Umgang mit der Natur gegeben.
Mit derartigen Vorstellungen räumt die Arbeit von Joachim Radkau gründlich auf. Sie bietet eine beeindruckend umfassende, gut geschriebene und äußerst interessante Darstellung des Verhältnisses von Mensch und Umwelt. Radkau zeigt, dass bereits lange vor den heutigen Problemen krisenhafte Zuspitzungen auftraten. Dabei ist die Wiederlegung verbreiteter Vorurteile nicht das eigentliche Anliegen der Untersuchung. Dieses ist viel umfassender. Radkau beschreibt die unterschiedlichen Phasen im Verhältnis von Mensch und Natur und zeigt, wie wichtig für jede historische Analyse nicht nur politische, ökonomische oder soziale, sondern auch biologische und natürliche Faktoren sind.
Genannt sei das Konzept des „ökologischen Imperialismus“, das international seit einigen Jahren großes Aufsehen erregt. Es geht davon aus, dass sich mit der europäischen Expansion nicht nur neue Formen der Herrschaft und der Ökonomie weltweit ausbreiteten, sondern auch bisher in Europa beheimatete Lebewesen, darunter Bakterien und Viren. Die Folgen seien oftmals verheerend gewesen, besonders in Lateinamerika. Hier wurde die einheimische Bevölkerung nahezu ausgelöscht, worin die eigentliche Ursache für den Sieg der spanischen Eroberer liege. Auch hätten sich hier Monokulturen, insbesondere Zuckerplantagen, durchgesetzt und zu einem Rückgang der früheren Artenvielfalt geführt.
Radkau stellt dieses Konzept ausführlich dar, arbeitet seine Stärken heraus, verweist aber auch auf Schwächen: Die Auswirkungen des ökologischen Imperialismus werden überschätzt. Denn die Durchsetzung neuer Arten erfolgt nur sehr langsam. Neben den fraglos wichtigen biologischen spielten auch militärische und politische Faktoren eine entscheidende Rolle. Bei diesen Ausführungen stützt Radkau sich auf die aktuelle internationale Literatur – und hier liegt eine seiner zentralen Leistungen: Das Buch bietet einen beeindruckenden Überblick darüber, was in den letzten Jahren nicht nur in Deutschland, Europa oder den USA, sondern auch in Afrika, Asien oder Lateinamerika publiziert und diskutiert wurde. Eine vergleichbar umfassende Darstellung liegt bisher in keiner anderen Sprache vor.
Dennoch ist das Buch keine Aneinanderreihung von Forschungsergebnissen. Es schildert vielmehr sehr anschaulich und spannend die unterschiedlichen Kulturen und deren Formen der Aneignung von Natur. Dazu gehören die Bewässerungswirtschaften in Ägypten und Mesopotamien, die Wasserkulturen in Venedig und Holland, die Entwicklung in China, wo massive Eingriffe in die Umwelt mehr als 2000 Jahre zurückreichen, die Bedeutung der Wälder in unterschiedlichen Regionen und Zivilisationen oder die Auswirkungen des frühen Bergbaus.
Dabei wird immer wieder ein wesentlicher Beitrag der Umweltgeschichte deutlich: Sie erlaubt es, neues Licht auf alte Themen zu werfen. Nicht nur bei der bereits erwähnten europäischen Expansion, sondern etwa beim amerikanischen Bürgerkrieg: Die Baumwolle als Monokultur hatte den Boden in den Südstaaten so weit ausgelaugt, dass deren Expansion und damit die Ausbreitung der Sklaverei in den Westen unausweichlich schienen und zum Bürgerkrieg führten. Generell zeigt die Darstellung, wie sehr vorindustrielle Gesellschaften nicht nur von den natürlichen Gegebenheiten abhingen, sondern auch vielfältige Formen und Institutionen entwickelt hatten, um mit den vorhandenen Ressourcen klug umzugehen, eine Übernutzung zu verhindern und die gefährdeten Gleichgewichte zu sichern. Das ist allerdings nicht immer gelungen. Ein sorgfältiger Umgang mit den Ressourcen wurde vielmehr von großer sozialer Ungleichheit und armseligen Lebensbedingungen erschwert. Wer sich für diese Fragen interessiert, muss zur Arbeit von Radkau greifen. Etwas Besseres gibt es nicht.
Nach soviel berechtigtem Lob einige kritische Hinweise, vor allem zu den Abschnitten über die modernen Industriegesellschaften und die aktuellen Umweltprobleme. Zwar vermittelt Radkau auch hier wichtige Erkenntnisse, etwa: Nicht die Industrialisierung, sondern erst der Übergang zu Massenproduktion und Massenkonsum markiert nach dem Zweiten Weltkrieg die entscheidende Weichenstellung. Erst damit traten in den Industrieländern und weltweit die Probleme auf, vor denen wir heute stehen. Radkau betont den hohen Energieverbrauch, die damit verbundenen Emissionen und Verkehrsprobleme, die Auswirkungen der chemischen Industrie und der Kernenergie.
Insgesamt jedoch fällt die Argumentation in diesen Abschnitten nicht so überzeugend aus wie zuvor. Es fällt auf, dass lediglich 60 von nahezu 350 Seiten die letzten beiden Jahrhunderte behandeln. Auch kommt die Darstellung hier zu wenig über die bekannten Argumente hinaus. Das ist allerdings nicht nur ein Problem des Buches, sondern eines der aktuellen Umweltdebatte generell. Mit dem Konzept der Nachhaltigkeit hat sie einen Begriff gefunden, der konsensfähig ist und die Debatte beherrscht. Das ist jedoch nur deshalb möglich, weil dieser Begriff so wandlungsfähig und unbestimmt ist, dass nahezu alle ihn benutzen können. Tatsächlich bestehen große Unsicherheiten darüber, wie die Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte zu bewerten sind und welcher Weg einzuschlagen ist.
Hier besteht also eine gewisse Schwäche – dies jedoch nur deshalb, weil die Arbeit von Radkau ansonsten ihre Leser so sehr verwöhnt und ihnen eine Vielzahl neuer Erkenntnisse vermittelt. Das Buch ist ein Durchbruch, nicht nur für Deutschland, sondern auch international.
Joachim Radkau: „Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt“. C. H. Beck, 2000, 438 Seiten, 68 DM
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