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Was ist Wahrheit? Die taz hat eine Antwort

Auch die taz überschreitet Grenzen des gewöhnlichen Journalismus. Anders als Tom Kummer bleibt sie jedoch auf der Seite der Wahrheit

BERLIN taz ■ „Was ist Wahrheit?“ lautet seit Pontius Pilatus die biblisch-ernsthafte Frage nach der Schuld der Realitätsfälscher. Und bereits in die Frage mischt sich die banale Erkenntnis, dass es keine endgültige Wahrheit geben kann. Ganz besonders nicht im heutigen Journalismus, der sich gern objektive Berichterstattung auf die Fahnen schreibt, aber von persönlichen, politischen und kommerziellen Interessen geprägt ist. So druckt auch die taz halb- und unwahre Meldungen, es werden Ereignisse erfunden oder so umgedeutet, dass sie die Grenzlinie zur Realität überschreiten, ja ganze Reportagen werden erfunden – zumindest auf einer Seite, die in der Presselandschaft einmalig ist: Die Wahrheit. Auf der letzten Seite der taz darf fast alles verletzt werden, was an Gesetzen den gemeinen Journalismus ausmacht. Deshalb wird Die Wahrheit gern als die Spaß- oder Kinderseite abgetan, mancher möchte ihr das Schild „Satire“ umhängen, um die Texte der Wahrheit sofort als minderwertig abtun zu können, denn das ist Humor für die Fraktion der Ernstler.

Die Wahrheit nutzt denn auch vorwiegend ein Element des Humor-Genres: den Fake. Eine Textsorte, die die Wirklichkeit verdichtet. Was aber ist der Unterschied zwischen Fake und Fälschung? Zwischen Wahrheit-Texten und gefälschten Interviews, wie sie der Kollege Kummer lieferte? Er betreibe „Borderline-Journalismus“, bemühte sich Kummer um eine Erklärung. Abgesehen vom Dummdeutsch-Wort ist darin schon eine Gemeinsamkeit zu erkennen. Auch die Wahrheit überschreitet Grenzen des gewöhnlichen Journalismus. „Man muss nur wissen, wie weit man zu weit gehen kann“, wie Jean Cocteau sagt. Wenn Gerhard Henschel eine fiktive Reportage über den Ajatollah Chomeini und seine Besuche in einem Pariser Sadomaso-Bordell schreibt und die iranische Botschaft heftig gegen die Erniedrigung des größten persischen Führers aller Zeiten protestiert, ergibt sich daraus Grundlegendes: Wahrheit-Texte richten sich immer gegen Mächtige, gegen jede Form der Nomenklatura, seien es Politiker oder Religionsführer oder jene prominenten Arschgesichter, die im Licht stehen wollen, während man die im Schatten nicht sieht, weil sie unter der Gewalt der Nomenklatura leiden. Eine gut erfundene Geschichte wird im besten Fall die tatsächlichen Interessen der Mächtigen entlarven.

Eine gut erfundene Geschichte darf außerdem jedes Niveau unterschreiten, solange die Komik dieser Entlarvung dient und nicht der Autor und seine Phantasie in den Mittelpunkt des Textes rücken. Wenn Fritz Tietz Finanzminister Eichel unterstellt, er ließe sich von seinem Leibwächter den „Finger ins Pupsloch“ stecken, um sich zu wärmen, so wird der psychoanalytische Zusammenhang zwischen Spartrieb, Geld- und Analfixierung in ein Bild gesetzt, das zwar moralische Vorstellungen verletzen mag, aber gerade dadurch eine wahnhafte Realität bloßlegt: „Je unglaublicher die Vorstellung, desto weniger wird man von der Realität überrascht“.

Eine gut erfundene Geschichte zeichnet sich schließlich dadurch aus, dass sie nicht nur die Realitätspartikel so einsetzt, dass der Leser kunstvoll getäuscht wird, sondern auch dadurch, das sie sich selbst Grenzen zieht. Zwar müssen besonders Minderheiten oder klassische Opfergruppen zum Bestandteil der Komik werden, damit sie gerade auf diesem Gebiet nicht vernachlässigt und sauertöpfischen Ernstlern zugetrieben werden. Aber sie dürfen nie erniedrigt werden. Eine gut erfundene Geschichte diffamiert und denunziert niemals.

Und was tut Kummer? Er sonnt sich im Scheinwerferlicht der Prominenz. Er transportiert über die Nomenklatura seine Ansichten. Er schreibt schlecht erfundene, weil unkomische Geschichten. Das ist nicht die Wahrheit.

MICHAEL RINGEL

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