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Streik soll nur ganz wenig wehtun

ÖTV-Chef Herbert Mai: Arbeitskampfmaßnahmen sollen Bevölkerung nur „ganz wenig treffen“. Urabstimmung hat begonnen. Immer neue Gerechtigkeitslücken tun sich auf: Ost-Gutverdiener sind im Vorteil, Ost-Lehrer allerdings schwer im Nachteil

von BARBARA DRIBBUSCH

Wohl ist ihm nicht in seiner Haut, und deswegen baut ÖTV-Chef Herbert Mai schon mal vor. Die Gewerkschaft ÖTV, so versichert Mai, werde darauf achten, dass Streikmaßnahmen „die Bevölkerung ganz wenig treffen“. Streik sei „keine Revolution und auch nicht der Weltuntergang in Deutschland“.

In den Betrieben begann gestern die Urabstimmung über einen Arbeitskampf im öffentlichen Dienst. Mindestens 75 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder müssen für einen Streik votieren. Der Arbeitskampf könnte dann nach Pfingsten beginnen.

Ziel des Streiks ist, das Arbeitgeberangebot einer Tariferhöhung von bisher 1,8 Prozent auf mindestens zwei Prozent in diesem Jahr nachzubessern. Außerdem fordert die ÖTV einen Stufenplan für die 100-prozentige Angleichung der Ost-Gehälter. Die Arbeitgeber haben lediglich eine Angleichung von bisher 86,5 Prozent auf 90 Prozent der West-Bruttogehälter im Jahre 2002 angeboten.

Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) hat bisher jede Nachbesserung kategorisch abgelehnt. Auch der Verhandlungsführer der Länder, Sachsens Finanzminister Georg Milbradt (CDU), erklärte gestern in der Bild-Zeitung, mehr als bisher geboten wurde, sei „nicht drin.“ Im öffentlichen Dienst sind 3,1 Millionen Arbeiter und Angestellten beschäftigt.

In der Frage der Angleichung der Ost-Gehälter stellen sich pikante Gerechtigkeitsfragen. Da die Beitragsbemessungsgrenzen in der Sozialversicherung im Osten niedriger liegen als im Westen, zahlen hier Gutverdienende weniger Beiträge an Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenkasse als ihre West-Kollegen. Nach vom Bundesinnenministerium veröffentlichten Zahlen verdiente ein alleinstehender Arzt im Osten, der brutto 90 Prozent des Westeinkommens bekäme, netto 104 Prozent, also mehr als sein Westkollege. Facharbeiter erhielten bei einer Bruttoangleichung auf 90 Prozent netto etwa 95 Prozent. In dieser Rechnung ist jedoch noch nicht berücksichtigt, dass die Ost-Beschäftigten in der Woche anderthalb Stunden länger arbeiten als ihre WestkollegInnen.

Eine neue Studie hat eine andere Gerechtigkeitslücke im öffentlichen Dienst ausgemacht. Nicht der normale Angestellte verdiene zu wenig, sondern seine Vorgesetzten im öffentlichen Dienst: Dies ergab eine Untersuchung der Unternehmensberatung Mummert und Partner. Danach haben deutsche Verwaltungschefs im Vergleich zu ihren Kollegen aus der freien Wirtschaft im Durchschnitt ein Drittel weniger in der Lohntüte. Das Tarif- und Besoldungssystem erweise sich zunehmend als Hindernis für die Modernisierung der deutschen Verwaltungen, heißt es in der Studie.

Die Ost-Lehrer wiederum machen ihre eigene Benachteiligungsrechnung auf: Da die sie wegen des Schülermangels nur Teilzeit arbeiten dürfen, erhielten sie zwischen 1.200 Mark und 3.400 Mark weniger als vollbeschäftigte Pädagogen im Westen, so die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Die GEW erwartet eine breite Zustimmung zum Streik. (mit dpa)

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