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Geschichte heißt Suche

Kulturell sind wir doch alle ein bisschen bi: In der LCB-Reihe „Deutschland neu lesen“ im Haus der Kulturen der Welt hatten sich die Schriftsteller Doron Rabinovici und Zafer Șenocak viel zu sagen. Zu sich selbst fanden sie aber nicht

Der Abschied von veralteten Begriffen und Vorstellungen fällt bekanntlich schwer. „Nationalkultur“ zum Beispiel ist ein solcher Begriff oder auch „Identität“. Um solche Dinge zu diskutieren, lud das Haus der Kulturen der Welt zusammen mit dem LCB deutschsprachige Autoren mit verschiedensten kulturellen Wurzeln zu der Reihe „Deutschland neu lesen“ (siehe taz vom 4. 5.) ein.

Für Leslie Edelson, Professorin für German Studies in New York, schien leider auch „Frontalunterricht“ zu solchen lieb gewonnenen, aber unzeitgemäßen Begriffen zu gehören. Eigentlich sollte Edelson im Rahmen der Veranstaltungsreihe die letzte Diskussion zwischen den Schriftstellern Doron Rabinovici und Zafer Șenocak leiten. Daraus wäre aber beinahe nichts geworden, da sie es mit ihren streng literaturwissenschaftlichen Fragestellungen nicht verstand, die Autoren miteinander ins Gespräch zu bringen. Hätten beide nicht selbst die Initiative ergriffen, die Veranstaltung wäre zu einem diskursiven Pingpong verkommen.

Zum Glück entdeckten die zwei Autoren aber schnell genügend Gemeinsamkeiten, um Edelson von sich abzukoppeln, und so wurde der Abend mit dem in Wien lebenden Rabinovici und dem Berliner Șenocak zu einer anregenden intellektuellen Herausforderung. Schon die Lesung der beiden war ein Verwirrspiel, das die üblichen Klischees von Fremdheit und kultureller Zugehörigkeit nicht unbeschadet überstanden.

Während der in Ankara geborene Zafer Șenocak von einem jungen Deutschtürken erzählte, der sich auf die von vornherein zum Scheitern verurteilte Suche nach der Geschichte seines Großvaters macht, präsentierte Rabinovici mit einer kurzen Lesung aus seinem Roman „Suche nach M.“ die endgültige Auflösung von Identität und Individuum. Die Romanfiguren des 1961 in Tel Aviv geborenen Schriftstellers und Essayisten Doron Rabinovici bekommt man nicht mit den üblichen Gemeinplätzen über jüdische Minderheiten zu fassen: Mit seinem Debüt, „Papirnik“, hat Rabinovici gezeigt, wie komplex und unüberschaubar postmoderne Charakterstudien ausfallen können. Und seine Geschichten um den österreichischen Juden Danni Morgenthau in „Suche nach M.“ sind derart verworren angelegt, dass sie in keine politischen Schablonen mehr passen.

Șenocak, beeindruckt von den Büchern seines Diskussionspartners, brachte es auf den Punkt: „Die Suche nach der eigenen Geschichte kann nie zu einem Ergebnis führen, letztlich gibt es nur den Prozess des Suchens.“

Wenn aber schon nicht sich selbst, warum dann nicht den anderen finden? Auf dem Podium jedenfalls hatten sich in neunzig Minuten zwei Autoren gefunden, die es in ihren Büchern verstehen, aus einem scheinbaren Minderheitenproblem allgemeine Fragestellungen zu kulturellen Identitätsbegriffen humorvoll zu formulieren. „Kulturell“, so Zafer Șenocak, „sind wir halt alle ein bisschen bi.“

RALF HANSELLE

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