: Wie im Westen, nur besser
Alle sind gekommen, aber keiner fiel besoffen unter den Tisch: Der Schriftsteller Viktor Jerofejew dokumentiert in einer Anthologie ganz neue Sitten in der russischen Literatur
Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew galt bei sich zu Hause schon immer als ein Hund des Westens. Er begann in den Sechzigerjahren zu schreiben, an der Schwelle zur poststalinistischen Tauwetterzeit – mit einer Literatur, die sich durch grundlose euphorische Freude am Leben und am überhöhten Alkoholkonsum auszeichnete. Doch Jerofejew unterschied sich schon damals rasant von den meisten seiner Kollegen. Man merkte es allein an seinem Erscheinungsbild, das für einen russischen Literaten beinahe kriminell wirkte: Er trug keinen Bart, nicht mal einen Schnurrbart, und mehr noch – er war glatt rasiert! Eine dicke Brille hatte er auch nicht.
Jerofejew schrieb keine übergewichtigen Romane über die Tragödien des Intellektuellen in Russland, sondern kleine flotte Bücher, in denen wenig philosophiert, dafür aber viel gereist, gelaufen, geschwommen, aufeinander geritten und geschimpft wurde. Viel Leben, viel Fun – wie der Schriftsteller selbst sagt.
Seine Werke kamen oft aus dem Westen zu den russischen Lesern und hatten Erfolg. Sein Roman „Die Moskauer Schönheit“ (auf Deutsch bei S. Fischer) bewirkte Anfang der Neunzigerjahre eine Art Sexrevolution. Das Buch verkaufte sich 1,5-millionenmal, anschließend machte man Jerofejew für eine riesige Abtreibungswelle verantwortlich. Er ist auch heute noch gut im Geschäft. Auf seiner Internetseite winkt der 52-Jährige freundlich mit der Hand. Darunter steht: „Der Schriftsteller Jerofejew signiert Ihnen jedes Buch.“
Was diesen Mann noch von seinen Kollegen unterscheidet: Er liest gerne Bücher von anderen Autoren, sucht nach neuen unbekannten Namen und stellt Anthologien zusammen. Das begann 1979 mit der Anthologie „Metropol“, die ihn berühmt machte. Vor ein paar Jahren kam seine zweite Anthologie zuerst in London und dann auch in Moskau heraus: In den „Russischen Blumen des Bösen“ präsentierte Jerofejew die so genannte Motherfucker-Generation der russischen Literatur: die russischen Doppelgänger von Bukowski, Burroughs, Genet und Baldwin. Es war ein voller Erfolg, gerade wird dieses Buch, das in Deutschland unter dem Titel „Tigerliebe“ erschienen ist, neu aufgelegt.
Zurzeit ist Jerofejew in einer anderen Mission in Europa unterwegs. Der DuMont Verlag hat seine neue Anthologie, die in Russland unter dem Titel „Die Zeit zu gebären“ zwar angekündigt, aber noch gar nicht erschienen ist, auf Deutsch schon herausgegeben: „Vorbereitung für die Orgie“, nach einer gleichnamigen Erzählung von Pavel Pepperstein. Pepperstein beschreibt eine ungewöhnliche Orgie: Sie beginnt um acht Uhr früh, es wird nicht gesoffen, nicht gefickt, und es werden keine Drogen genommen. Neben Pepperstein wählte Jerofejew neun Frauen und dreizehn Männer als Autoren aus, die altersmäßig fast alle Kinder des Herausgebers sein könnten. Eine ganz neue Generation – die weder eine sozialistische noch eine andere Erziehung genossen hat. Politisch desinteressiert, vielseitig gebildet, aber von jeder Verantwortung frei: „Wie im Westen, nur besser“, sagt Jerofejew stolz.
Diese junge Leute können offen über Sex und Drogen reden, hören dieselbe Musik und tanzen dieselben Tänze wie ihre Altersgenossen anderswo, erzählte mir der Herausgeber in Berlin: „Ich hatte für die Autoren eine Party in Moskau organisiert, eine richtige Soirée nach dem letzten Schrei – mit philippinischen Dienstmädchen und so weiter ... Alle sind gekommen, haben getanzt wie die Wilden, aber keiner hat sich besoffen, keiner fiel unter den Tisch!“ –„Kaum zu glauben!“, staunte ich. Das ist eine wirklich ganz neue Geste in der russischen Literatur.
WLADIMIR KAMINER
Viktor Jerofejew: „Vorbereitung für die Orgie. Junge russische Literatur“. DuMont Verlag, Köln 2000, 350 Seiten, 49,90 DM
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