: Ist Authentizität nur ein Wort?
In seinem Hacker-Film „23“ hatte Hans-Christian Schmid die Achtzigerjahre rekonstruiert. Jetzt hat er Benjamin Leberts Erfolgsroman „Crazy“ verfilmt und widmet sich darin den späten Neunzigern und der Generation H & M: last exit Wirklichkeitvon KOLJA MENSING
Vor einem Jahr erschien der Roman „Crazy“. Der Autor Benjamin Lebert war gerade 17 und der Roman sozusagen autobiografisch: Er erzählte von einem Teenager namens Benjamin, der ein bisschen behindert ist, auf ein Internat geht und mit dem Leben nicht richtig klarkommt. Das Buch war sehr erfolgreich, Benjamin Lebert erfuhr in der Literaturkritik messianische Verehrung, und sein Autorenfoto mit den weiß blondierten Haaren und den strahlend blauen Augen wurde zur unbeweglichen Ikone der neuen Jugendlichkeit der deutschen Literatur.
Die Ikone bleibt uns in ihrer Unbeweglichkeit erhalten: Regisseur Hans-Christian Schmid hatte Benjamin Lebert zwar zum Casting eingeladen, entschied sich dann aber dagegen, ihm in der Verfilmung von „Crazy“ die Hauptrolle zu geben. Benjamin sei zu nahe dran an der Figur und am Text, erklärte Schmid die Entscheidung und wies damit noch einmal auf das wertvollste Kapital der Drehbuchvorlage hin: die Authentizität.
Der Film „Crazy“ beginnt mit grobkörnigen, leicht verwackelten Videoaufnahmen: eine Fahrt auf der grauen Autobahn, ein gelbes „Ausfahrt“-Schild, und dann – last exit realism – der Schnitt in eine andere, hoch aufgelöste und sonnige Filmwirklichkeit: Benjamin wird von seinen Eltern in seinem neuen Internat abgeliefert. „Ich heiße Benjamin Lebert, bin sechzehn Jahre alt, und ich bin ein Krüppel. Nur damit ihr es wisst“, begrüßt er seine Mitschüler. Trotzdem ist natürlich jeder nett zu ihm, überhaupt ist hier jeder nett zu jedem, und so stellt man sich ein Internat ja auch vor: schön brav lernen und in der Freizeit gemeinsam töpfern, zeichnen, fotografieren. Oder träumen: „Das hier ist mein Lieblingsplatz“, sagt die Malen, als sie Bennie durch die Schule führt, und zeigt ihm die Bibliothek.
Innerhalb dieser Enid-Blyton-Welt inszeniert der 35-jährige Regisseur Hans-Christian Schmid nun Jugendlichkeit: Da wird sich im Kreis aufgestellt und im fröhlichen Zeitraffer masturbiert, so wie man das aus amerikanischen Teenager-Komödien kennt, es gibt Fotoroman-Szenen wie aus der Bravo, und die Kleidung der Darsteller ist so sorgfältig ausgesucht, dass jedes Szenenfoto sofort als Mode-Reklame plakatiert werden könnte. Hans-Christian Schmidt, der in seinem Hacker-Film „23“ sehr eindrucksvoll die 80er-Jahre rekonstruiert hatte, widmet sich in „Crazy“ nun der Generation H & M und den späten 90ern. In „23“ traten die Darsteller hinter dem halbdokumentarischen Zeitkolorit, dem Flimmern der Computermonitore und einer großen, unsichtbaren Verschwörungswelt zurück. In „Crazy“ stellt Schmid sie wieder nach vorne, und ganz vorne steht Benjamin. Benjamin ist halbseitig gelähmt, und darum fällt er eigentlich immer irgendwie auf. Robert Stadlober spielt ihn ganz richtig und ganz echt: Benjamin, den Arm leicht verbogen, das Bein nachgestellt, steht linkisch und einsam auf dem viel zu hohen Dreimeterbrett am See, Benjamin bewegt sich schief und irgendwie zappelig auf einer viel zu leeren Tanzfläche.
Benjamin ist eine arme Sau. Genau wie die anderen. Denn seine eigentliche Behinderung allerdings teilt er mit seinen Freunden: die Behinderung, jung zu sein. Zuletzt steckst du eben doch allein in diesem fremden Körper, wenn du 16 bist, und alle, alle schauen dich an. Trotz der vielen bunten T-Shirts stehen Benjamin, der dicke Kugli, Janosch und die anderen Jungs nackt vor der Kamera. Helden? „Randgruppen“, sagt Janosch: „Fett, krüppelig, schweigend, dumm.“
Die Pubertät ist ein einziges defizitäres Empfinden, und mit dieser Feststellung müsste taktvollerweise einfach Schluss sein – so wie im letzten Jahr in dem schwedischen Film „Fucking Åmål“ von Lukas Moodysson. Aber Hans-Christian Schmid möchte unbedingt Bilder finden für das unscharfe Verlangen, das in diesem Defizit begründet liegt: Also muss Benjamin schön im Playboy blättern und seinen Freund Janosch genauso wie die Kamera dabei zugucken lassen und wie der letzte Trottel von einem sexy Fotomodell mit Cowboyhut träumen. Er muss mit seinen Freunden ein Striplokal besuchen, und er muss an der Filmdramaturgie entlang – im Gegensatz zum Roman – auf das „erste Mal“ warten: „Crazy“ inszeniert die Jugend als feuchten Traum.
Auch Hans-Christian Schmids Film könnte vom Leben erzählen: vom erwachsenen Leben allerdings, das in der Jugend allein eine Projektionsfläche sieht für das eigene, immer noch mit allerhand Mängeln belastete Dasein. Stattdessen rennt „Crazy“ im Kino lieber der Authentizität einer Romanvorlage hinterher, ohne sie einzuholen. „Crazy – Das Buch zum Film“ ist da in einem gewissen Sinne ehrlicher. Hans-Christian Schmid und sein Drehbuch-Co-Autor Michael Gutmann haben dafür kleine Reportagen über den Alltag ihrer so authentisch jungen Schauspieler geschrieben: „Wahrscheinlich wird es Zeit, dass wir endlich gehen“, endet die Beschreibung einer Party, die Gastgeberin ist 16, „damit die Truppe unter sich ist und ihren Spaß haben kann.“ Das ist wohl die einzig realistische Einschätzung der Situation. Fucking banal, eigentlich.
„Crazy“. Regie: Hans-Christian Schmid. Mit Robert Stadlober, Tom Schilling, Oona-Devi Liebich, Dagmar Manzel u. a. Deutschland 2000, 95 Min.
Fotohinweis:„Warum bist du ausgerechnet so scharf aufs Kino?“, will Janosch wissen. „Na, ja, das Kino erzählt doch etwas vom Leben, oder?“, fragt Kugli. (Benjamin Lebert, „Crazy“, 1999)
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