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Tanz aus der Zeche

Tolstoi als Ballett, frei organisierte, ausgebaute Choreografiezentren und „Tanzmesse NRW“: Kein Tag, an dem im dichtbevölkertsten Bundesland nicht getanzt würde. Die Gründe für den Tanzboom in Nordrhein-Westfalen? Nirgendwo sonst haben so viele Leute geschlossen auf die Politik eingewirkt

von GABRIELE WITTMANN

Wer den „TanzKalender“ für Nordrhein-Westfalen aufschlägt, kommt im Juni aus dem Staunen nicht mehr heraus: Das Ballett in Bielefeld interpretiert „Anna Karenina“, Jochen Ulrichs Compagnie spielt im Großen Sendesaal des WDR, das Ballett Schindowski gastiert in Wuppertal, und in Düsseldorf eröffnet das Internationale Tanzfestival mit einer Gala. Gestern wiederum begann in Essen das „größte deutsche Tanzereignis des Jahres 2000“: die internationale „Tanzmesse NRW“. Nicht alles, was lockt, lohnt sich. Aber dennoch: kein Tag, an dem nicht getanzt würde im dichtbevölkertsten Bundesland. Und das hat seinen Grund.

Sich verantwortlich fühlen für den Tanz

Der Tanz hat in Nordrhein-Westfalen eine Lobby. Nirgendwo sonst in Deutschland haben sich so viele Leute aus dieser Sparte zusammengeschlossen und so erfolgreich auf die Politik eingewirkt. Zum Beispiel die von Anne Neumann-Schultheis wesentlich geprägte „GZT NRW“, die Gesellschaft für Zeitgenössischen Tanz. Dreißig aktive Fachleute haben sich zu diesem Verein zusammengetan, künstlerische Leiter und Wissenschaftler, Kulturreferenten und Geschäftsführer, Fotografen und Pädagogen. Die Tanzhistorikerin der Universität Köln ist ebenso vertreten wie der Geschäftsführer des Wuppertaler Tanztheaters von Pina Bausch. Erklärtes Ziel dieses Vereins ist es, „dass Kulturwirtschaftsbereiche sich verantwortlicher fühlen für den Tanz, und Künstler sich wirtschaftlicher verhalten“, so Anne Neumann-Schultheis.

Für die Tänzer bedeutet das: Sie sollen ihre Produkte besser vermarkten und bessere Pressearbeit gewährleisten. Damit sie dies lernen, helfen Fachleute im „Landesbüro Tanz“ mit Fortbildungen, Auskünften, Adressen. Anne Neumann-Schultheis besucht regelmäßig die Inthega-Konferenz, auf der Städte tagen, die selbst kein Theater haben, aber ein Kulturprogramm zeigen wollen, und argumentiert gegen die „Angst vor der Bewegungs-Sparte“. So hat sie Dyane Neimans „Chicken Fodder“ inzwischen auch in Minden oder Siegen, Wolfsburg oder Bad Kissingen untergebracht. „Man darf die Region nicht unterschätzen“, meint sie, „wer zehnmal in einer Kleinstadt gastiert, hat einen guten Teil eingespielt und wird manchmal sogar besser bezahlt als an großen Theatern.“

Daneben gibt das „Landesbüro Tanz“ den oben zitierten Kalender heraus, der alle Tanzereignisse des Bundeslandes verknüpft – was bei einer S-Bahn-Fahrt von zwanzig Minuten Dauer zwischen zwei Städten durchaus sinnvoll ist. Selbst mit den Niederlanden werden Finanzierungsmodelle erprobt, bei denen deutsche Tänzer ähnlich gut bezahlt werden wie im vorbildlichen Nachbarland. Um solche Konstruktionen ersinnen zu können, braucht es vor allem Wissen, internationalen Austausch und gute Argumente.

Argumente für die Politik sind immer Geld und Tradition. Die Tanztradition ist in Deutschland zwar ausgeprägt, aber wenig dokumentiert und – wie etwa an angelsächsischen Universitäten – diskutiert. Auch hier finden sich in Nordrhein-Westfalen ungewöhnliche Partner. Das soeben erschienene Buch „Tanz-Lese“ vereint Aufsätze über Essener Tradition – von der Folkwang-Hochschule bis zu aktuellen Produktionen der Freien Szene und den House-Parties der Neunzigerjahre. Herausgeber sind eine Tanzhistorikerin und der Kulturdezernent der Stadt Essen, Oliver Scheytt. Seit Jahren versucht er, die Willensbildung der Politik mit Argumenten zu beeinflussen. „Die Stadtpolitik hat erkannt, dass wir – wenn wir unsere Fülle von Institutionen bündeln und konzentrieren – eine besondere Stärke entwickeln können“, erklärt er und nennt die Folkwang-Hochschule, das Folkwang-Tanzstudio, das Ballett am Aalto-Theater und das Gymnasium Essen-Werden, an dem Schüler Tanz studieren und ihr Abitur machen können. Jüngster Coup ist das künftige „Choreografische Zentrum“ auf dem Gelände der Zeche Zollverein.

In diesem – in Deutschland einmaligen – Zentrum können Choreografen demnächst frei arbeiten und erhalten von erfahrenen Kollegen künstlerische Begleitung. „Wir fangen langsam an“, erklärt der künstlerische Leiter Gianni Malfer, „wenn zwölf Choreografen im Jahr bei uns arbeiten könnten, wäre das ideal.“ An dem Training, das je nach Projektvorhaben individuell zugeschnitten ist, können auch Tänzer aus der Region teilnehmen. „In London funktioniert das hervorragend“, weiß Gianni Malfer, „aber in Deutschland haben Tänzer nur Trainingsmöglichkeiten, wenn sie an einer städtischen Bühne engagiert sind.“

Das Choreografische Zentrum hat seinen Sitz auf dem Gelände der Zeche Zollverein, die für 100 Millionen Mark umgebaut wurde. Diese Entwicklung im Ruhrgebiet wäre nicht denkbar ohne die EU-Gelder für die „Strukturumwandlung“ von der Industrie- zur Kulturlandschaft. Rund ein Dutzend Zechen wurde in den letzten Jahren saniert, riesige Hallen locken zur Benutzung. Die „Tanzlandschaft Ruhr“ lud im vergangenen Jahr erstmals Choreografen zur Arbeit. Und die wurde bislang ein Erfolg: In Stephan Koplowitz’ „Kohle Körper, Kokerei-Projekt“ bogen sich die Tänzer über die Stahlträger der Zeche Zollverein. Olimpia Scardi nutzte den länglichen Raum des Ringlokschuppens, um in „Spaccanapoli“ – so der Name einer breiten Straße, die Neapel teilt – zwei soziale Welten zu zeigen. Und Urs Dietrich platzte mit seinem „Sturmgeflüster“ in den Maschinenraum der Zeche Carl.

Tanz braucht Politik, braucht Politiker

Und nun ist auch noch die dritte „internationale Tanzmesse NRW“ auf der Zeche Zollverein gestartet. 15.000 Gäste werden erwartet, an 100 Ständen gibt es Produkte zu bestaunen – vom Schwingboden bis zur fertigen Choreografie made in NRW. 1,5 Millionen kostet diese Schau, für die das Wirtschaftsministerium doppelt so tief in die Tasche greift wie der arme Bruder Kulturministerium. Das ruft naturgemäß Neider auf den Plan. Außerhalb Nordrhein-Westfalens schielen Kritiker auf diese im Tanz außergewöhnliche Allianz und brummeln leise. Walter Heun, der in München ein dezentrales Fördernetz aufbaut und mit einem „Nationalen Performance Netz“ Gastspiele erleichtern will, fragt vorsichtig: „Werden die Gruppen bei der Tanzmesse so viele Gastspiel-Angebote bekommen, dass sich der Aufwand lohnt?“ Sollte nicht jeder Pfennig direkt zu den Künstlern wandern, statt in Organisations- und Strukturtöpfe? Eines jedenfalls ist sicher: Tanz braucht Politik. Tanz braucht kluge Politik. Denn Kultur findet immer innerhalb von Politik statt.

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