Wählt 0 13 79-50 50 98!

Stimmt für eine zivilere Gesellschaft, stimmt für die Ost-West-Entkrampfung, stimmt für das Gute, stimmt für John!

von DETLEF KUHLBRODT

„Sie bilden sich ein, dass ein gestrengerer Ton und ein ernsteres Thema das Niveau des Buches, der Presse, des Films und des Fernsehens heben könnte. Sie sind in geradezu lächerlicher Weise auf dem Holzweg!“ (Marshall McLuhan, „Understanding Media“, 1958)

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Unendlich lang scheint es her zu sein, dass alles begann. Hundert Tage lang begleiteten uns „die Bewohner“ und wurden immer weniger. Fünf wurden von den Zuschauern rausgewählt, drei Frauen gingen freiwillig und wurden von den Eingewechselten ersetzt, die kurzzeitig für ein bisschen Wirbel sorgten wie Sabrina oder nie so recht den Anschluss fanden wie Verena oder dann doch den Frühling in Freiheit erleben wollten wie Jona.

Big Brother war ein tolles Projekt, denn der alltägliche O-Ton mit seinen ganzen Abschweifungen und Unlogiken ist viel interessanter als die funktional zurechtgebogene normale Medienrede, und die individuelle Sprachgeste sagt mehr als die austauschbare Meinungskonformität. Die Helden waren Folien, durch die man seinen eigenen Alltag anschaute, und vor allem lernte man am Bildschirm Leute kennen, mit denen man in seinem normalen Leben nie zusammengetroffen wäre.

Lernte man sie wirklich kennen? Eigentlich waren sie wie Urlaubsbekanntschaften, also nicht ganz wirklich, denn ihnen fehlte das, was einen kompletten Menschen ausmacht: Freunde, Platten, Bücher, Wohnungseinrichtungen, Lieblingsfernsehprogramme usw. Sie waren sogar noch etwas weniger wirklich. Denn vor allem besteht der andere doch auch aus seinem Blick, mit dem er unserem Blick begegnet, was den Leuten im Container naturgemäß verwehrt war: Sie konnten nicht zurückschauen. Auch das lernte man irgendwann. Als die ersten aus dem egalitären Askese-Container wieder ins richtige Leben gewechselt waren, hatte man das Gefühl, dass es sich eigentlich umgekehrt verhält, wie landläufig gesagt wird: dass sie im Container vor unserer Neugierde geschützt waren, während sie in der Freiheit des echten Fernsehens, wo sie alle Fragen beantworteten, schutzlos wirkten und ohne Geheimnis.

Draußen sagte Despina „Wenn das hier nicht stattfindet, wird es anderswo stattfinden. Das ist wie in der Gentechnik . . .“, draußen wurde Zlatko ein Star, draußen gaben Alex und Kerstin, die wegen Wollust mit mehr oder weniger Süffisanz denunziert wurden, via dpa ihre Trennung bekannt. Alex' Curd-Jürgens-mäßige Single „Ich will nur Dich“ wurde von Viva abgelehnt. In tausend Talkshows wirkten die nunmehr geschminkten, frisierten und rhetorisch vereinheitlichten Ex-Bewohner so uninteressant wie der Großteil der anderen TV-Personalities.

Am deprimierendsten war ihr Auftritt neulich beim „Dome“, einer RTL 2-Eventveranstaltung, bei der sie Zlatkos Hintergrundband abgeben durften und noch einmal ihr schreckliches Lied anstimmten: „Hey Big Brother / Big Brother ist okay / we stay all the way.“ Janis Joplins Band „Big Brother & The Holding Company“ drehte sich dreimal im Grab um, Zlatko befahl seinen Fans den von RTL 2 bis zur Unerträglichkeit gefeatureten Jürgen zu wählen und die anderen, die für John waren, weil er immer freundlich zu seinen WG-Genossen war, durften nix sagen. Skandal! Zlatko – „Wie? Ein großer Mann? Ich sehe immer nur den Schauspieler seines Ideals.“ (Nietzsche) Und Jürgen. Ein toller Kerl? – „Ihm liegt daran, dass geredet wird“ und „die Bodenlosigkeit des Geredes versperrt ihm nicht den Eingang in die Öffentlichkeit, sondern begünstigt ihn“. (Martin Heidegger, „Sein und Zeit“)

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Als Big Brother begann, war das Geschrei in Sachen Menschenwürde groß, verstummte allerdings schon bald wieder, denn kaum einer der Kritiker schaute sich die Abenteuer unserer Helden auch an. Nun hat der Spiegel noch mal zugeschlagen und die Sendung mit der üblichen Ironie der Besserverdienenden als kulturindustrielles Hauptbeispiel eines zum Werteverfall führenden Medien-Relativismus verdammt. Wie hierzulande üblich hat Reinhard Mohr seine Kritik mit lustig-ironischen NS-Vergleichen aufgepeppt: „Wer kriegt den ersten Preis als beliebtester Lagerinsasse nach 1945?“, „Ein Volk, ein Raab, ein Lachanfall“ und John de Mol, „Europas Reichsprogrammführer“.

Der schlimmste Relativismus triumphiert immer da, wo der Relativismus der Massenunterhaltung beklagt wird, und es ist schon irre, dass die fidelen „Kulturkritiker“ immer so tun, als sei Big Brother eine rein deutsche Geschichte. Die parallel laufende spanische Version „Gran Hermano“ wurde von bis zu zehn Millionen Zuschauern, einem Viertel der Bevölkerung, angeschaut und an die holländischen Quoten reicht die deutsche Version bei weitem nicht ran. Allerdings gabs in Holland und Spanien auch mehr Nacktheit und einen Swimmingpool im Garten.

Nach dem Spiegel-Artikel war ich kurz davor, meinen – nun ja – Hass auf den veranstaltenden Sender zu vergessen, der die Idee seines Projektes nicht müde wurde zu verraten, indem er sich als Veranstalter in den Vordergrund spielte, wie der Soziologieprofessor Sighard Neckel in der Frankfurter Rundschau hervorhob. Das fing damit an, dass die windigen RTL 2-Experten den Bewohnern einen Machiavellismus unterstellten, den man bestenfalls bei Zlatko oder Jürgen bemerkte, und einzelne auch denunzierte („Manu – das ist kein echtes Leben“), setzte sich fort mit absurden Quotentreibern (Hubschrauberangriff von Hans Meiser) und endete mit unverhohlener Parteinahme für den pflegeleichten Lokalhelden Jürgen, dem man mit der mittlerweile legendären Nudel Sabrina eine ähnlich gestrickte Gesprächspartnerin ins Haus schickte. Von den Promis (Verona Feldbusch, Toni Polster usw.) nicht zu reden, die kurz im Container auftauchten.

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Die letzten Tage waren wieder friedlich. Wenig passiert, und es macht Spaß zuzuschauen. Die restlichen drei Bewohner sollen alle Gegenstände im Haus signieren. Das wird dann versteigert. Die Pappmachékuh Else wird weiter angemalt. Die kommt nach der Sendung zur Expo. Alles ist ganz wunderbar und Jürgen ist mangels Sabrina die Möglichkeit genommen, sich als TV-Depp zu produzieren. Im Gespräch mit der ernsteren Andrea zeigt er sogar Unsicherheiten, als sie sagt, sie habe nur wenig Freunde. Für den Satz möchte man sie umarmen! Damit kann Jürgen nichts anfangen; er, der immer mit seinen zahlreichen Freunden angegeben hatte, er der mal gesagt hatte, er habe noch nie was Schlimmes erlebt in seinem Leben und stolz darauf war, als sei das sein Verdienst. So ein Faker, Poser und falsches Gemüt! Im Nachhinein stand mir die kleine Jona am nächsten, weil sie auf Alex aufmunternden Befehl – „Du musst dich ein bisschen behaupten“ – mit einem „Hab ich keine Lust drauf“ antwortete. Warum soll man sich denn auch behaupten? Das ist doch völlig bescheuert!

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Heute abend wird also entschieden, ob der aalglatte Schwätzer aus Köln oder John, der ursympathische, sensible potsdamer Dachdecker mit Kinderheim- und Hausbesetzervergangenheit die Siegprämie von 250.000 Mark mit nach Hause nehmen kann. Andrea werden nicht einmal mehr Außenseiterchancen eingeräumt. Es wäre ein großer Fortschritt hin zu einer zivileren Gesellschaft und würde zur längst fälligen Ost-West-Entkrampfung beitragen, sollte nicht Jürgen, sondern John gewinnen, der mit ebenso ausgefeilten wie ökologisch einwandfreien Brotbacktechniken imponierte. Wähle 0 13 79-50 50 98 auf dem Telefon!

Wähle 0 13 79-50 50 98 und du stimmst für John!

„Auch wenn wir noch so oft 0 13 79-50 50 98 wählen, wir werden uns nicht durchsetzen, leider“, meint zwar Peter Körte von der FR, doch wir können es schaffen, wenn Du nur willst! „Ein bisschen mulmig ist mir schon vor Freitag“, sagte John. Bei Endemol überlegt man gerade angestrengt, ob es nicht möglich ist, seine Ohrlöcher wieder zuzunähen.