Berge von Reispapier voller Leben

Der Japaner Takahiro Suzuki „belebt“ mit seiner Performance das 4. Festival junger experimenteller Künstler. Seit Anfang Mai beschreibt er Blätter von oben bis unten mit nur einem einzigen Wort: „Ikiro“ – das heißt „lebe!“ Damit verstört der 33-Jährige die Besucher gleich am Eingang

Tausende, vielleicht Zigtausende sind es gewesen. Und nun, am Ende der Ausstellung, reicht die Zahl der Blätter ins Unendliche. Besucher, die in den vergangenen Tagen noch einmal das „Festival junger experimenteller Künstler“ im alten Postfuhramt besuchen, springen die Blätter tausendfach entgegen. Denn unermüdlich hat der junge Mann im Eingangsbereich der Ausstellung als leibhaftige Performance geschrieben. Um ihn herum türmen sich Berge von Reispapierblättern. Allen ist eines gemein: Von oben bis unten sind sie eng beschriftet mit nur einem einzigen Wort: „Ikiro“.

Takahiro Suzuki war zum Festival der experimentellen Kunst aus Osaka nach Berlin eingeladen worden, um den Besucher gleich am Eingang zu verstören. Denn die japanischen Schriftzeichen, die Suzuki präzise und nahezu meditativ in chinesischer Tinte zu Blatt brachte, sind eine Aufforderung an den Leser des Wortes und zugleich eine Beschwörungsformel des Schreibers. Ikiro bedeutet „lebe!“ oder „Sei lebendig!“

So stoisch Suzuki – glatzköpfig und in seiner graublauen Tracht erinnert er an einen Samurai – im Foyer steht, so gleichmäßig fließen die Schriftzeichen aus seinem Pinsel. „Ich mag keine komplexen Systeme, ich liebe die Einfachheit“, erklärt der 33-Jährige. Alles um ihn herum ändere sich permanent, „darum möchte ich mit meinem Projekt etwas Konstantes schaffen“. Etwas, worauf sich der Mensch, „der unaufhörlich von Komplexität und Vielfalt umflutet ist“, besinnen kann. Der Festivalbesucher, der sich auch zu Hause „Sei lebendig!“ zurufen lassen will, kann eines der Reisblätter gegen eine Spende erwerben.

Als Suzuki nach seinem Studium an der Kunsthochschule Tokyo nach New York ging, begann er, seine Arbeit zu reflektieren. Die unüberwindbar scheinende Schwelle in die New Yorker Welt der Kunst entmutigte ihn. In dieser Zeit beschriftete Suzuki sein Tagebuch mit dem japanischen Wort „Ikiro“, um sich selbst jeden Tag aufs neue zu ermutigen. Es blieb nicht bei dem anfänglich im Verborgenen geschriebenen „Sei lebendig!“. Seit Mai 1997 schreibt Takahiro Suzuki seine Botschaft in aller Öffentlichkeit.

Mit seinem „Ikiro-Projekt“ bereiste der Künstler über 40 Länder und schrieb in nepalesischen Tempeln, vor dem Mount Kailash, dem Heiligen Berg der Tibeter, in Tansania, in Amerika – und nun zum ersten Mal in Europa. Lange Zeit verstand sich Suzuki als Aktionskünstler. Überdimensionale Installationen und selbstexperimentelle Kunstwerke sollten den Betrachter wachrütteln. Hierfür legte er sich tagelang in eine sargähnliche Kiste, lag schlafend auf Hauptstraßen mitten im Verkehrschaos Osakas oder steckte seinen Kopf mehrere Stunden in einen Kühlschrank. Zum Ausdruck bringen wollte er stets einen provozierenden Kontrast zu seiner rast- und ruhelosen Umwelt.

Dieser Appell findet sich noch heute in seinem „Ikiro-Projekt“ wieder. Wie man lebt, das weiß Suzuki nicht. Er steht in der Eingangshalle des alten Postfuhramtes und zuckt bedächtig die Schultern. „Manchmal weiß ich nicht genau, warum ich das mache“, sagt er und deutet auf die Papierberge neben sich. Aber dass er seine Kunst auch in Zukunft weiterführen will, das weiß er. Und so schreibt Takahiro Suzuki tagein tagaus, Stunde um Stunde unzählige Male nur ein einziges Wort. Nur montags nicht. Da hat er seinen freien Tag. NICOLE RUBBA

Takahiro Suzuki: „Ikiro Projekt“, Festival junger experimenteller Künstler noch bis zum 12. Juni im Postfuhramt, Oranienburgerstr. 35 in Mitte