piwik no script img

Erich im Wunderland

Nach katastrophalem Beginn rafft sich das deutsche Team im ersten EM-Spiel doch nochzu einer phasenweise ansprechenden Leistung auf und erkämpft ein 1:1 gegen Rumänien

von MATTI LIESKE

Es dauerte keine zwanzig Minuten, da sah Thomas Häßler schon aus, als würde er es fürchterlich bedauern, dass er sich dermaßen vehement in diese Mannschaft gedrängelt hatte. Mit zerknirschter Miene schlich der 34-Jährige gramgebeugt über den Platz, schien aber dann plötzlich zu beschließen, dass er so sang- und klanglos nicht in seinem 100. Länderspiel untergehen wollte. Einer musste den Aufrüttler spielen, und erstmals in seiner internationalen Karriere war es der kleine Münchner, der diese Aufgabe übernahm. Der amtierende Obermotivator Lothar Matthäus fiel dafür aus. Er hatte genug damit zu tun, seinen Muskel zu bewachen und die Hacken des Altersgenossen Hagi zu bewundern.

Häßlers kämpferisches Fäusteballen in Richtung der dahindämmernden Kollegenschaft hatte offenbar etwas Magisches an sich. Waren die Deutschen bis dahin von ihren rumänischen Gegnern nach allen Regeln der Spielkunst vorgeführt worden, lagen mit 0:1 zurück, hatten groteske Fehler in Serie begangen und wurden bei jeder Ballberührung von den Zuschauern verhöhnt, wendete sich auf einmal das Blatt. Plötzlich stand ein DFB-Team auf dem Platz, wie man es gar nicht mehr für möglich gehalten hatte. Nichts mehr von der Opferlamm-Attitüde jüngerer Zeiten, dafür die alte Das-drehen-wir-noch-um-Mentalität. Teamchef Ribbeck muss sich vorgekommen sein wie Erich im Wunderland.

Plötzlich gelangten die vorher so übermütigen Rumänen kaum noch an den Ball, sie verloren jeden Zweikampf im Mittelfeld und mussten prompt den Ausgleich durch Scholl hinnehmen. Großer Fußball war es beileibe noch nicht, was die Deutschen boten, aber immerhin mehr Kampfesbereitschaft und Effektivität als in den letzten fünf Länderspielen zusammen und einige ansehnliche Spielzüge. Der Spott von den Rängen wandelte sich in Beifall, und erst kurz vor der Pause kam Rumänien wieder zu Atem, wenn auch nur, um gegen den ausgebliebenen Elfmeterpfiff beim klaren Foul von Linke an Ilie zu protestieren.

In der zweiten Halbzeit pendelten sich die Dinge dann auf beiden Seiten bei einem gewissen Mittelmaß ein. Der Druck der Deutschen war ebenso verpufft wie der Ballzauber der Rumänen. Einige wenige Chancen hüben, einige wenige, aber bessere, drüben, wahrhaftig kein EM-Spiel der berauschenden Art. Die Sicherung des Unentschiedens hatte beiderseits Vorrang, und am Ende blieb es dann auch beim schiedlich-friedlichen 1:1. Beileibe kein glanzvoller Start für Ribbecks Fußballzwerge in der schwierigen Gruppe A mit England und Portugal, aber auch nicht das befürchtete Debakel.

Deutschland: Kahn - Linke (45. Rehmer), Matthäus (77. Deisler), Nowotny - Babbel, Häßler (73. Hamann), Jeremies, Scholl, Ziege - Bierhoff , Rink Rumänien: Stelea - Ciobotariu, Popescu, Filipescu - Petrescu (69. Contra), Galca, Hagi (73. Mutu), Munteanu, Chivu - Moldovan (85. Lupescu), IlieTore: 0:1 Moldovan (5.), 1:1 Scholl (28.)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen