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Rätselmann bleibt rätselhaft

Wer ist Putin? Pünktlich zum Deutschlandbesuch des Kremlchefs manifestieren zwei neue Bücher den Mythos des geheimnisvollen Jelzin-Nachfolgers, der „der Deutsche“ heißt und sich gerne widersprichtvon BARBARA OERTEL

Was wäre die Welt ohne Kategorien? Nichts. Und wo sie nicht passen, werden sie eben passend gemacht. So hat sich auch an Russland schon mancher die Zähne ausgebissen. Da, wo althergebrachte Schablonen und Raster versagen, werden die unergründlichen Tiefen der slawischen Seele oder der Schriftsteller Fjodor Tjutschew (1803 – 1873) bemüht, der schon im 19. Jahrhundert wusste, dass Russland mit dem Verstand nicht zu begreifen sei.

Vor rund neun Jahren, als sich die Sowjetunion von der Weltbühne verabschiedete und den Kommunisten die Schaltstellen der Macht entglitten, schien vieles einfacher, manches aber auch komplizierter zu werden. Diejenigen Kräfte, die zum Kampf gegen das alte System bliesen, allen voran Russlands Präsident Boris Jelzin, wurden fortan vom Westen mit dem Gütesiegel „Demokrat“ und „Reformer“ versehen und zu Hoffnungsträgern stilisiert. An dieser Wahrnehmung änderte sich auch nicht viel, als sich Jelzin im Herbst 1993 des Parlaments mit Waffengewalt entledigte und ein Jahr später Truppen in der Kaukasusrepublik Tschetschenien einmarschieren ließ.

Stand Jelzin jedoch, bis zu seinem freiwilligen Abgang im vergangenen Dezember, noch für eine gewisse Stabilität innerhalb der Instabilität des Landes, so gibt der neue erste Mann im Kreml, Wladimir Putin, Rätsel auf. Wer, fragen sich immer noch viele, ist dieser Putin, der im vergangenen August quasi über Nacht zum Regierungschef berufen und am 26. März dieses Jahres per Volksvotum gleich im ersten Wahlgang in den Kremlpalast katapultiert wurde? Dass gerade in Deutschland viele Beobachter diese Frage umtreibt, ist verständlich. Obwohl die rot-grüne Bundesregierung, anders als ihre Vorgängerin, im Verhältnis zu Russland einen eher pragmatischen Umgang pflegt, bleibt die Achse Berlin – Moskau sowohl für beide Beteiligten als auch im europäischen Kontext von größter Bedeutung. Überdies gastierte Putin in den 80ern als KGB-Mitarbeiter fünf Jahre lang in geheimdienstlicher Mission in der DDR.

In deutscher Sprache liegen bislang zwei Bücher vor, die das Geheimnis Putin lüften wollen: „Aus erster Hand“ – eine Dokumentation mehrerer, längerer Interviews, die drei Journalisten der russischen Zeitung Kommersant mit Wladimir Putin geführt haben, ergänzt durch Äußerungen von Angehörigen, Lehrern und Bekannten. Und die Biografie „Wladimir Putin – Der ‚Deutsche‘ im Kreml“ des Russlandexperten Alexander Rahr, die an diesem Mittwoch, parallel zum ersten Deutschlandbesuch Putins als Präsident, in Berlin vorgestellt wird.

Um es gleich vorwegzunehmen: Wer glaubt, er werde Putin nach der Lektüre politisch verorten können, wird enttäuscht. Konturen und Profile bleiben unscharf, die Suche nach einem eindeutigen politischen Credo und konkreten Aussagen wie zum Beispiel zur Rolle des Staates vergeblich. Jedoch gerade die Interviews zeigen, dass es Putin meisterhaft versteht, seine Karten zu mischen und auszuspielen – hineingucken lässt er sich deswegen noch lange nicht. Das ist insofern nachvollziehbar, als die Veröffentlichung in Russland vor den Präsidentenwahlen als Motivationshilfe für eine Stimmabgabe zugunsten Putins gedacht war.

Auch Alexander Rahr bekommt den Politiker Putin nicht in den Griff und muss sich damit begnügen, dessen teils widersprüchliche Vorstellungen zur russischen Innen- und Außenpolitik erst einmal unkommentiert nebeneinander stehen zu lassen. Stattdessen verwendet er weite Teile seiner Ausführungen auf eine sorgfältige Analyse des politischen Kräfteparallelogramms, das in den vergangenen neun Jahren die Entwicklung in Russland maßgeblich bestimmt und Putin groß gemacht hat. Und dieser Kontext ist im Wesentlichen charakterisiert durch Intrigen und – mehr oder minder offen ausgetragene – harte Verteilungskämpfe zwischen verschiedenen Clans sowie die Besetzung entscheidender Positionen im Machtgefüge des Staates mit deren Exponenten.

Soweit wir wissen, hat sich Putin in diesem Gestrüpp seinen Weg zielstrebig gebahnt. Das allein sagt zwar nicht alles, aber dennoch viel aus über die Qualitäten eines Mannes, der Russland in den kommenden Jahren regieren wird. Insoweit hat Rahr die Frage „Wer ist Putin?“ zumindest indirekt doch ein Stück erhellt. Unzweifelhaft dürfte Putin während seiner Amtszeit seinen Teil zur Beantwortung dieser Frage beitragen. Klar ist jedoch schon jetzt: Er wird es niemandem leicht machen, ihn in eine der beliebten und gängigen Schubladen zu stecken. Vielleicht sollten sich Analytiker beizeiten nach neuen Etiketten umsehen.

Geworkjan, Kolesnikow, Timakowa: „Aus erster Hand. Gespräche mit Wladimir Putin“. Heyne-Verlag München, 2000, 16,90 DMAlexander Rahr: „Wladimir Putin – Der ,Deutsche‘ im Kreml“. Universitas Verlag München 2000, 39,90 DM

Hinweis:Wo althergebrachte Raster und Schablonen versagen, werden die unergründlichen Tiefen der slawischen Seele bemüht

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