Tendenz:lustlos

2003 wird die EU nicht größer sein. Das machen die bisherigen Beitrittsverhandlungen klar
aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Als Agrarkommissar Franz Fischler Anfang Juni in Warschau vor Landwirtschaftsexperten und Geistlichen über den Strukturwandel in der Landwirtschaft und Polens Beitrittsperspektive sprach, da lobte er Gemeinsinn und Durchhaltevermögen der Menschen auf dem Lande. „Wir müssen demonstrieren, dass diejenigen, die politische Verantwortung tragen, sich um das Wohlergehen kleiner Dörfer kümmern, die weit weg von Warschau und noch weiter von Brüssel liegen.“

Durchhaltevermögen werden die Bauern auf dem Weg in die Europäische Union auch brauchen – nicht nur in Polen. Wenn heute in Luxemburg das letzte Kapitel in den Beitrittsgesprächen eröffnet wird, das Kapitel Landwirtschaft, dann gehen die Verhandlungen in Wirklichkeit erst richtig los. Denn die Vorstellungen darüber, was für die kleinen Dörfer am besten sein könnte, gehen in Brüssel und Warschau zunehmend auseinander.

Aber auch in den Verhandlungen mit den anderen fünf Ländern der so genannten „Luxemburg-Gruppe“, deren Beitritt schon 1997 beschlossen wurde, hakt es bei vielen Kapiteln. Der bisherige Verlauf der Beitrittsgespräche mit Tschechien, Ungarn, Slowenien, Estland und Zypern gibt einen Hinweis darauf, wie lange es dauern könnte, bis beim freien Personen- und Dienstleistungsverkehr, beim freien Kapitalverkehr oder im Bereich Justiz und Inneres mit einem Ergebnis zu rechnen ist. Denn bislang sind fast nur „harmlose“ Bereiche wie Statistik, Bildung, Fischerei, Forschung und Telekommunikation unter die Lupe genommen worden. Dennoch hat es zum Beispiel für Polen fast zwei Jahre gedauert, bis die Fachleute den erreichten Stand als ausreichend erachteten und bereit waren, elf Kapitel zu schließen. Ungarn hat ebenfalls elf, Slowenien hat zwölf, Estland und Tschechien haben je 13 Bereiche erledigt. Nur Zypern hat schon 16 Kapitel hinter sich – von ingesamt 31.

In Brüsseler Fensterreden wird noch immer verkündet, die EU werde Ende 2002 fit sein für die Aufnahme neuer Mitglieder. Tatsächlich aber ist klar, dass der Zeitplan nach hinten verschoben werden muss. Als Griechenland, Portugal und Spanien Anfang der 80er-Jahre der EU beitraten, hatten sie schon mehr als 60 Prozent des durchschnittlichen EU-Bruttoinlandsprodukts erreicht. Polen kommt derzeit auf 39, Estland gar nur auf 36 Prozent.

Innenpolitisch löst die lange Wartezeit in manchen Ländern einen neuen Anti-EU-Trend aus. Im tschechischen Parlament zum Beispiel scheiterte Mitte Mai die Justiz-Reform, die dafür sorgen sollte, dass das Land in diesem Bereich EU-Standard erreicht. In Polen wurden Ende letzten Jahres Zusatzzölle für Getreide, Malz, Schweinefleisch und Raps eingeführt. Eine politische Entscheidung, die aus Brüsseler Sicht absurd ist – führt sie doch einen Schritt weg vom angestrebten gemeinsamen Markt.

Wenn man bedenke, dass die Marktpreise für Schweinefleisch in der EU nur wenig höher seien als in Polen, könnten doch beide mit einer Doppel-Null-Lösung sehr gut leben, appellierte Fischler an die polnische Regierung. Landwirtschaftsminister Artur Balasz machte postwendend klar, dass er nicht daran denke, die Zölle aufzuheben. Das werde erst geschehen, wenn Polen EU-Mitglied werde. Selbstverständlich müssten dann die polnischen Bauern ohne Übergangsfristen die gleichen Direktbeihilfen erhalten wie Bauern in Portugal oder Frankreich.

Die Schweinefleisch-Debatte liefert den Vorgeschmack darauf, was den Expertengruppen, die die Lage in den Kandidatenländern mit EU-Standards vergleichen und Harmonisierungsvorschläge machen, in den nächsten Monaten und Jahren bevorsteht. Da der Agrarhaushalt noch immer fast die Hälfte des EU-Budgets ausmacht, wird hier besonders zäh um Ausnahmeregelungen und Übergangsfristen gerungen werden. Sollten polnische Bauern sofort den gleichen Besitzstand erhalten wie ihre Kollegen in Frankreich oder Spanien, wäre die EU schnell pleite.

Wenn heute die Gespräche zur Landwirtschaft beginnen, hat die portugiesische Präsidentschaft ihre Ankündigung wahr gemacht und Verhandlungen über alle 31 Politikbereiche eröffnet. Unter französischer Präsidentschaft sollen dann die sechs neuen Kandidaten der so genannten „Helsinki-Gruppe“ nachziehen. Zeitweise wird es also zu einem wahren Verhandlungsmarathon kommen, wo zwölf Länder parallel über jeweils bis zu zwanzig Politikbereiche reden. „Verhandlungen“ im eigentlichen Sinne sind das natürlich nicht. Die Bittsteller liefern einen Lagebericht, die Experten prüfen ihn und vergleichen dann mit den Mindeststandards für die EU-Aufnahme. Verhandelt wird nur über mögliche Ausnahmeregelungen und Übergangsfristen.

Polen zum Beispiel möchte zwar ohne jede Frist von den Direktbeihilfen in der Landwirtschaft profitieren. Gleichzeitig werden dort aber 18 Jahre Übergangsfrist beim freien Kapitalverkehr gefordert. Damit sollen die Ängste in der eigenen Bevölkerung vor einem Ausverkauf gedämpft werden. Erst 18 Jahre nach dem Beitritt sollen andere EU-Bürger in Polen landwirtschaftliche Flächen erwerben dürfen. Auch beim Umweltschutz will Polen eine lange Schonfrist – erst 17 Jahre nach dem Beitritt sollen die strengen EU-Normen gelten.

Ein deutscher EU-Diplomat bezeichnet die unversöhnlich scheinenden Ausgangspositionen lakonisch als „Verhandlungsmasse“. Wenn Polen wirklich sofort Direktbeihilfen wolle, dann verschiebe es damit seinen Beitritt ohnehin auf die Zeit nach 2006. Bis zu diesem Jahr haben sich die EU-Chefs nämlich einen strengen Finanzrahmen verordnet – und der sieht Direktbeihilfen für polnische Bauern nicht vor.