piwik no script img

Betr.: Taub auf einem Ohr, taz hamburg vom 9. Juni 2000

Ganz einfach

Die Probleme zwischen gehörlosen und schwerhörigen Kindern sind kompliziert, stellen eine Spezialität in der Schul- und Behindertenpolitik dar, und hier in Hamburg ist alles im Hinblick auf Verworrenheit, Graben- und Dschungelk(r)ämpfe aufgrund der Geschichte und Besonderheiten an der Gehörlosenschule sowie der Unversität Hamburg noch einmal zu potenzieren. – Das entschuldigt vieles. – Exkulpieren können sich aber weder die Hamburger Schul- und Sozialpolitik und schon gar nicht die Schulbehörde.

Sie setzte im Schnellschussverfahren für die gehörlosen Kinder und gegen die schwerhörigen Kinder alles auf eine Karte und das bedeutet angesichts der klaren Absichtserklärung der Schulbehörde, Politikerinnen aus SPD und GAL, gehörlosen und schwerhörigen Kinder gemeinsamen Unterricht aufzuzwängen – auf dem Rücken der schwerhörigen Kinder und deren Zukunftschancen. Denn bis zu einem Lebensalter von 9 bis 12 bedeutet ein paralleles Angebot von Gebärden (für Gehörlose) und Lautsprachen (für Schwerhörige) immer das Verdrängen der Lautsprache zugunsten der Gebärde. Siehe die erschreckenden Ergebnisse des sog. Bilingualismus-Schulversuchs an der Gehörlosenschule, sämtliche neurophysiologischen Erkenntnisse, Stellungnahmen aus Phoniatrie, Pädaudiologie und Akustikern.

Die Schulbehörde denkt nicht an die Gehörlosen und pokert rücksichtslos mit nur diesem einen „Trumpf“, der Zwangs-Zusammenlegung beider Schulen gegen den erklärten Willen von Eltern-, Schüler- und Lehrerschaft der Schwerhörigenschule. (...) Der unselige Schulversuch „Bilingualismus“ wurde vor acht Jahren auf Wunsch von acht Eltern eingerichtet. Hier gibt es über 200 Eltern, deren Wille ignoriert wird!

Und die zuständigen Beamten haben auch noch die Verve, auf andre Vorschläge (Norddeutsches Gehörlosenzentrum etc.) zu antworten: „Dafür habe ich keine Zeit“, obwohl in allen möglichen Behindertenbereichen gerade auf Grund der kleinen Zahlen für einzelne Bundesländer genau damit – und nur so – Qualität angeboten werden kann. Hier bedeutete dies: ein mehrstufiges Schulangebot (Grund-, Haupt-, Realschule, Gymnasium, Berufsvorbereitung). Das hat mehr mit Integration zu tun als eine behinderte Gruppe (Gehörlose) in eine andere behinderte Gruppe (Schwerhörige) einzugliedern. Mit Integration hat das jedenfalls im Sinne des Begriffs aus dem Hamburger Schulgesetz und der gängigen Definition in anderen Behindertenbereichen nichts zu tun. – Integration kann bloß immer die Eingliederung von behinderten Menschen in die nicht behinderte Gesellschaft sein. (...)

Wir haben hier ein Musterbeispiel für Politikgestaltung gegen Recht und Gesetz durch die Exekutive, obwohl das Hamburger Schulgesetz einen Bestandsschutz beider Sonderschulen (§§ 19 (2), 11 (2)) vorsieht. Das Schulgesetz ist nicht einmal besonders alt, und der Bestandsschutz hat sein Gründe.

Eigentlich ist also alles ganz einfach - wenn man sich auskennt.

Thomas Wüppesahl,

(Sprecher der Eltern-AG „Fürmehr hörgerichtete Frühförderung“)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen