: Jugenddrama ohne Drama
Kleine Mädchen in der Vorstadt: Die junge belgische Regisseurin Patrice Toye führt in die Fantasie ihrer Heldin „Rosie“, ohne sie zu verklären
von BARBARA SCHWEIZERHOF
Für Rosie interessiert man sich vom ersten Moment an. Nicht nur weil ganz am Anfang die Frage steht, was sie getan hat, um dahin zu kommen, wo wir sie zuerst sehen: in einem Mädchenheim, wo sie wahrscheinlich nicht freiwillig gelandet ist. Es sind das Gesicht und die Haltung dieser Figur, die sofort die Aufmerksamkeit fesseln.
Rosie versucht zu verbergen und gibt doch gerade dadurch ungeheuer viel von sich preis. Das mag eine der Hauptnöte ihres Alters sein. Rosie ist 13, und aus ihrer Perspektive ist das eine schmerzliche Erfahrung. Doch die Regisseurin versteht es, ihre Figur an keiner Stelle einer überlegenen Bewertung auszuliefern. Wenn auch nicht ganz zu Verbündeten, werden wir doch zu teilnehmenden Beobachtern.
„Rosie“ ist das Regiedebüt der jungen Belgierin Patrice Toye. Als Film über die Konflikte des Noch-nicht-Erwachsenseins reiht er sich ein in die ganze Serie vor allem französicher Filme der letzten Zeit, wie etwa „Petits frères“ von Jacques Doillon, „Lila Lili“ von Marie Vermillard oder „Un frère“ von Sylvie Verheyde, und ist doch ganz anders.
Zwar stellt auch „Rosie“ den Versuch dar, mit den Mitteln eines „armen“ Kinos im programmatischen Sinne den Dramen im Kleinen auf die Spur zu kommen. Auch hier hat das Setting teilweise Dokumentarfilmcharakter, ist die Ausleuchtung sparsam, und in der Enge der echten Wohnungen rückt die Kamera sehr nahe an die Figuren heran. Doch in „Rosie“ steht im Mittelpunkt, was man in der situativen Beiläufigkeit der anderen Filme manchmal vermisst: das Aufzeigen der inneren Konflikte seiner kleinen Heldin. Nicht das Soziale steht hier im Vordergrund, sondern das Eingreifen von Fantasien und Seelengespenstern ins reale Leben.
So wird der Film ganz getragen von der Darstellung der 13-jährigen Aranka Coppens. In ihrer Figur wird das Kind erkennbar, das übergangslos schon Frau sein will und sich damit ständig selbst überfordert. Die kecke Platzierung der Spange im langen, glatten Haar, die tierfellartig gemusterte Plüschjacke, die Art, wie sie in Minirock und geklauten Cowboystiefeln in der Ödnis der Vorstadtlandschaft herumstakst oder Groschenromane verschlingt – in allen Details kommt diese kindliche Verstiegenheit zum Vorschein, die eigentlich schon weiter sein will, aber zur Not das Erwachsensein einfach wie eine Maske wieder ablegen kann. In ihrer Stimme klingt eine seltsame Kombination aus Großmäuligkeit und Kleinmut mit, die ständig schüchtern um Anerkennung wirbt.
Die Figuren um sie herum sind wie unterzeichnet, mehr Skizzen als Charaktere. Da ist die Mutter (Sara de Roo), nur 14 Jahre älter als sie, die darauf besteht, als Schwester bezeichnet zu werden. Auf der einen Seite ganz nah und verständnisvoll, auf der anderen Seite sehr mit sich selbst beschäftigt, fordert sie traurig-freundlich von Rosie Rücksichten wie von einer Erwachsenen. Ihr neuer Freund Bernard (Dirk Roofthooft) bemüht sich um beide, bleibt aber undurchsichtig. Der Onkel Michel tritt zuerst mit dem großzügigen Humor des besten Freundes in Erscheinung – und wird dann nach und nach zum erpresserischen Bedränger von Mutter und Tochter. Aber zum Glück ist da auch noch Jimi (Jost Wijnant), so etwas wie die erste große Liebe, ein etwas älterer Beschützer, bereit, alles mit ihr zu teilen.
In der Erzählung gibt es eine kriminalistische Spur: Von Anfang an wissen wir, dass Rosie etwas verbrochen haben muss. In langen Flashbacks wird aus dem Danach im Heim vom Davor erzählt. Ein Unterstrom, der unauffällig, aber stetig auf eine wie auch immer geartete Katastrophe oder zumindest die Entdeckung eines Geheimnisses zusteuert.
Doch nie wird daraus das Sozialdrama, das man sonst bei Themen wie Inzest und dysfunktionaler Familie erwartet. Der Film bewahrt sich als Ganzes den Gestus des Unspektakulären. Und verschiebt den Fokus von den drängenden Problemen seiner Hauptfigur auf ihren Umgang damit.
Denn Rosie hat einen Schutzschild: ihre Imagination. Sie flüchtet nicht aus der Realität in eine Traumwelt, sie macht ihre Fantasie zum Akteur der Wirklichkeit. Die Straßen der Antwerpener Vorstadt sind unwirtlich, die Industriebrache, in der sie ihre Freizeit allein und mit Jimi verbringt, ist ein trostloser Ort. Doch als Kulisse ihrer Selbsterfindungen erscheint die Ödnis auf einmal belebt, nicht schöner, aber weniger unerträglich.
Dennoch ist „Rosie“ keine Hymne auf die Kraft der Fantasie, es geht letztlich auch um deren Zwiespältigkeit – darum, dass sie auch zu Taten verführen kann, die man bereut.
„Rosie“. Regie: Patrice Toye. MitAranka Coppens, Sara de Roo,Dirk Roofthooft. Belgien 1998, 97 Min.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen