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Das üppige Vakuum

Morgen Abend wird in Berlin der Deutsche Filmpreis vergeben. Mit der Darstellung von Geschichte hat das heimische Kino seine Probleme. Einige Anmerkungen zum neuen deutschen Historienfilm

von RAINER ROTHER

In einigen neuen deutschen Filmen lässt sich ein merkwürdiges Phänomen beobachten: Eine Vorliebe für Liebesgeschichten, die vor dem historischen Hintergrund des Nationalsozialismus spielen. Offenkundig soll das den Storys eine besondere Bedeutung verleihen, soll der bewährte Kunstgriff des Historienfilms, die Konzentration auf die private Welt eigentlich durchschnittlicher, sozusagen mittlerer Figuren, die Schrecken von Diktatur und Terror in populärer Weise verdeutlichen.

Anders als in früheren Filmen über die NS-Zeit stehen nicht Soldaten im Mittelpunkt, geht es auch nicht um kritische Entscheidungssituationen oder den seltenen Widerstand. Der Alltag rückt ins Zentrum, mit Charakteren, die nicht besser und nicht schlechter sind als andere, schon gar nicht wichtiger. Die Figuren der Lovestorys haben mit politischen Entscheidungen zunächst nichts zu tun, ihre Wege geraten nur aus der Bahn, weil das Drehbuch gelegentlich den Einbruch der Zeitumstände in den privaten Kosmos vorsieht. Solche Fiktionen des Historienfilms basieren im besten Fall auf der Reibung zwischen den Wünschen der Figuren und den Möglichkeiten, sie innerhalb ihrer Umgebung zu verwirklichen. Nach dem Muster dieser populären Geschichtsbilder ist nun der Nationalsozialismus im deutschen Film zu einer Art Grundrauschen geworden, das zu undifferenziert ausfällt, um mehr als bloße Kostümfilme hervorzubringen.

Dabei wäre es interessant zu sehen, wie sich aus der Normalität der Durchschnittsbürger, aus ihrem Glücksverlangen etwas zu Widersprüchen entwickelt, wie Alltag unter der Diktatur zu einer fassbaren Geschichte wird. Eine populäre Erinnerungsarbeit könnte entstehen, immer in Gefahr, neue Mythen über die Normalität des Alltags in der Diktatur zu kreieren und gerade wegen dieser Gefährdung interessant oder manchmal sogar beeindruckend wie „Heimat“ von Edgar Reitz.

Geschichte als blasses Bilderspiel

In Alexander Kluges „Die Patriotin“ gibt es eine Szene, die wie ein ironisches Programm für konventionelle Filme über das Verhältnis von Liebesgeschichten und „großer Geschichte“ wirkt. Ein Ehepaar steht in einem Hotelzimmer vor dem Spiegel, macht sich zum Ausgehen fertig. Er richtet seine Uniform, und der Off-Kommentar spricht vom Kriegsausbruch, der die Hochzeitsreise beenden wird – das Paar wird sich in den nächsten Jahren also kaum mehr sehen. Das Lakonische, auch Didaktische der Szene enthält virtuell das Handlungsmuster vieler Filme. Bei Kluge ist die Liebesgeschichte nicht einmal angedeutet, sie wird nur als Erzählmöglichkeit zitiert und parodiert damit den klassischen Historienfilm – dessen Herausforderung ja gerade darin besteht, die Lovestory möglichst detailreich zu erzählen, denn nur dann kann sie mit der „großen Geschichte“ effektvoll in Konflikt geraten.

Dafür drängt sich natürlich das Melodram auf – vielleicht war Fassbinders „Lili Marleen“ 1980 der erste deutsche Versuch, die NS-Zeit mit opulentem Kino und Kolportage aufzubereiten. Ein klarer Schritt in Richtung Hollywood, hin zu einer Geschichtsdarstellung mit spektakulären Bildern und gleichzeitiger Abneigung gegen allzu differenzierte Charaktere. Mit dem Melodram griff Fassbinder sozusagen prototypisch für den deutschen Film auf ein Genre zurück, das stets das Individuum gegen die Konventionen setzt bzw. das Glücksverlangen gegen gesellschaftliche Regeln – daher seine Offenheit für den Historienfilm. Dabei gilt: Je besser die Liebesgeschichte, desto stärkere historische Konflikte kann die Story aushalten. Nur müssen sowohl die Figuren wie auch die Zeitumstände genau und glaubhaft wiedergegeben sein, damit sich das Eintauchen in die Vergangenheit nicht zum blassen Bilderspiel verflüchtigt. Genau das passiert aber in neuen deutschen Filmen: Sie nehmen die Vergangenheit als Klischee.

Zum Beispiel in der 12-Millionen-Produktion „Aimée und Jaguar“, dem ersten historischen Melodram der 90er-Jahre, das als wirklich großes Kino daherkommen will. Ein herrisch auftrumpfender, nachts aber wegen gerade überstandener Einsätze flennender Ehemann auf Fronturlaub; die Liebessuche der einsamen Gattin; gelegentliche Bombenangriffe bei Nacht und eine vage gekennzeichnete jüdische Widerstandsgruppe sind die Zeichen, mit denen dieser Film die letzten Kriegsjahre beschwört. Es gibt schon die „Ostfront“, und Juden müssen den gelben Stern tragen, daraus kann man auf das Jahr schließen.

Andererseits kaum zu glauben, dass es sich um 1941 und die folgenden Jahre handeln soll. Der Film spielt in einem Berlin, das nach Studio aussieht. Keine Frage der Kulissen, es geht nicht um die Details der Ausstattung, sie mögen alle stimmen. Aber war der Alltag im Berlin der Vierzigerjahre so leblos? Die Figuren wirken wie in die Zeit hineingebeamt, sie gehen nicht aus deren Atmosphäre hervor. Hat die Trägerin des Mutterkreuzes nicht einmal Hitler zugejubelt? Wie verwandelt sich ihre Begeisterung in Skepsis und Furcht? Was tut eine vierfache Mutter eigentlich mit ihren Kindern im Bombenkrieg? Warum kann sie trotz Kriegseinschränkungen die große Wohnung samt Dienstmädchen behalten? Und die neue, die große Liebe, ihre jüdische Freundin: sie ist Mitglied einer Widerstandsgruppe. Nichts erfährt man über die täglichen Gefahren illegaler Arbeit. Soziale Kontrolle, die Überwachung der gesamten Gesellschaft durch Denunzianten, der sich die Freundin ja permanent entziehen muss, kommen nur als Behauptungen vor. Auf eigenartige Weise fehlen die erzählerischen Details, die der sorgfältigen Ausstattung erst den Sinn geben würden. Dazwischen klafft das große Loch des neuen deutschen Historienfilms.

John Ford hatte die Angewohnheit, seinen Drehbuchautoren Fragen zu den von ihnen erfundenen Figuren zu stellen. Er wollte alles über sie wissen, ihr Vorleben, ihre „Geschichte“, und war erst zufrieden, wenn die fiktive Vita vollständig war. Im Film kamen die von Ford geforderten Einzelheiten explizit nie vor – aber für die Zuschauer hatte seine Vorgehensweise einen wichtigen Effekt. Die Figuren seiner Filme waren immer mehr als das, was sie in der Story taten und sagten, ihre Konturen reichten über sie hinaus. „Aimée und Jaguar“, doch immerhin nach dem Vorbild realer Personen entworfen, besitzen keine solche Vita, es gibt keine Hinweise, die sie sozusagen vollständiger rekonstruierbar machten. Sie erschöpfen sich in dem, was sie im Film sagen und tun – ihre Liebesgeschichte könnte fast zu jeder Zeit spielen, denn sie haben einfach keine Vergangenheit.

Ähnlich ergeht es den Figuren in Rolf Schübels Film „Gloomy Sunday“, der doch immerhin für den Deutschen Filmpreis nominiert wurde. Ihnen fehlen die Widersprüche, sie sind als Fiktionen zu glatt, um wirklich zu interessieren. Schübel setzt nur halbherzig auf das Melodram, führt die menage à trois schnell und zu komplikationslos auf die Lösung hin, gestattet den Figuren große Gefühle nur im Alkoholrausch. Verzweiflung und Leidenschaft beschränken sich ansonsten auf einen wohl temperierten Zustand – aber das gilt nicht nur für die Liebesgeschichte. Die Reserve gegenüber dem kompromittierten Genre macht es Schübel unmöglich, die moralische Ambivalenz, die Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ immerhin hatte, auf seine Konstellation zu übertragen. Die Beziehung der schönen Ilona zum jüdischen Restaurantbesitzer Laszlo und dem Komponisten und Pianisten Andras wird von dem Herrenmenschen, der erst als Tourist, dann als Besatzer nach Ungarn kommt, zwar zerstört, aber nie bedroht. Die Anlage der Story machte aber eigentlich nur Sinn, wenn der SS-Mann auch etwas Verstörendes bekäme.

Das Problem des Films ist nicht, dass er den SS-Mann zu einem Opportunisten macht, der gegen hohe Geldbeträge Juden die Ausreise ermöglicht. Er nimmt vielmehr die Figur des korrupten SS-Retters nicht ernst genug. Die Story verlangte Differenzierungen, die vielleicht aus Angst vor Relativierungen vermieden werden. Die Frage ist nur, warum überhaupt „großes Kino“ versucht wird, wenn man seine immanenten Forderungen zugleich scheut.

Möglicherweise ist es ja einfach keine gute Idee, sich mit dem Melodram am Nationalsozialismus zu versuchen. Der Massenmord hat kein melodramatisches Moment. Offenkundig bietet sich das Genre heute jedoch vor allem deswegen an, weil es den Weg zu einem Alltag zu ebnen scheint. Gerade dann aber müsste man den eigenen Erfindungen so sehr vertrauen, dass sie mit historischer Wirklichkeit aufgeladen werden können.

Von der Relativierungzur Geschichtsfälschung

Joseph Vilsmaiers „Comedian Harmonists“, der in seiner Erzählung noch die Machtübernahme der Nationalsozialisten enthält, hat das immerhin in Ansätzen versucht. Mit „Marlene“ aber inszeniert der Bayer die Geschichte ausgesprochen üppig im Dekor, um Historisches ansonsten möglichst zu fliehen. Als Melodram hätte er die Beziehung zur Tochter Maria anlegen können, manche Ansätze dazu finden sich im Film. Er versucht aber, das Genre zum Umschreiben der Geschichte zu nutzen. Die lächerliche Versicherung des Schlusstitels, Marlenes Geliebter, der deutsche Offizier von Seidlitz, tauche in den Äußerungen der Dietrich nicht auf, und es bleibe ein Geheimnis, wer ihre große Liebe gewesen sei, ist eine erzählerische Bankrotterklärung: Die eigene Erfindung wird als Geheimnis der realen Dietrich ausgegeben.

Mit „Marlene“ verbindet sich gar nicht die Frage, was das Genrekino für populäre Geschichtsbilder leisten könnte, dazu ist der Film zu desinteressiert an seiner Hauptfigur. Das Scheitern anderer aufwendig angelegter Historienbeschwörungen aber zeigt: Es wäre an der Zeit, dass deutsche Filme Geschichten erfinden, Liebesgeschichten und andere, ohne sie vor der Vergangenheit, in der sie spielen, in Sicherheit bringen zu wollen.

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