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Rente für die KGBler

Hühnerstehler, Holzhacker, Heimkinder und eine graue Sonne über Tschernobyl: Fünf osteuropäische Filme beim V. Ethnofilmfest, die von kleinen Helden und großen Kämpfen an der Peripherie erzählen

von HELMUT HÖGE

Der Themenschwerpunkt des diesjährigen Ethnofilmfests im Ethnologischen Museum ist das „Ritual“ und der Länderschwerpunkt „Mexiko“. Es werden viele Filme über und von Indianern gezeigt. Ich habe mir von den insgesamt 120 Filmen, die bis zum 25. Juni zu sehen sind, vorab fünf aus Osteuropa angeschaut. Gleich der erste – von Aleksei Shipulin über einen Sheriff in einer kleinen russischen Stadt – hat mich begeistert. Dieser Hauptwachmeister – Sanja Iwaschkow – schaffte es nämlich, den neuen Zeiten voll gewachsen zu sein. Erwischt er einen Dieb, der einer alten Frau die Hühner geklaut hat, zwingt er diesen, der Besitzerin im Garten zu helfen und Holz zu hacken. Alle alten Frauen träumen seitdem davon, bestohlen zu werden. Sanja ist stark: Mit vier Mann, die ihn beleidigen, nimmt er es auf. Sind es mehr, wartet er ab, bis sie nach Hause gehen, um ihren Sieg zu feiern. Dann verhaftet er sie, sperrt sie ein – und feiert erst einmal selbst. Anschließend lässt er sie wieder frei. In seinem Ort gibt es keine Verbrechen mehr: Alles ist friedlich. Dennoch gefällt den Vorgesetzten in der Stadt seine unkonventionelle Art nicht. Eines Tages kommt ein neuer Sheriff in den Ort – Sanja wird entlassen, er betrinkt sich. Zum Glück wird der neue schon bald ermordet. Die Vorgesetzten kommen zu Sanja und sagen: „Du kannst wieder bei uns anfangen, Sanja!“

Der nächste Film stammt aus Litauen, er ist sehr kurz und dreht sich um das alte Badehaus in einer Kleinstadt: „The Bathhouse“ von Rimantas Gruodis. Die alten Frauen klagen: Das Wasser ist schlecht, der Präsident hält seine Versprechungen nicht, die Russen sind alle am Arsch, die Kolchose hat man unsinnigerweise aufgelöst usw. Die alten Männer klagen: Überall wimmelt es von Dieben, die Bolschewiki haben seinerzeit die Sauna zerstört, es ist Pilzsaison, aber man findet kaum welche, nur die KGBler kriegen anständige Renten: Das ist doch absurd usw. Trotz der Klagen fühlen sich aber eigentlich alle im Badehaus ganz wohl, und die Administration teilt sogar Bons dafür aus, so dass man nicht zu bezahlen braucht.

Der dritte Film stammt aus Estland und ist von Tönis Lepik „The Stories of Koue Liisu“. Dabei handelt es sich um eine zahnlose 94-jährige Frau namens Pauline Vapper, die Wodka-Lieder singt und Geschichten aus ihrem Leben erzählt – über den Kommunismus, den Krieg, die Kirche und die Nachbarn. Ihre Eltern zogen mit Beginn des Ersten Weltkriegs auf eine kleine estnische Insel – ein Jahr wollten sie bleiben, aber Pauline Vapper lebt dort noch heute.

Besonders herzergreifend fand ich den weißrussischen Film „Holiday for Orphans“ von Galina Adamowitsch. Er handelt von einer Gruppe Heimkinder, deren Eltern zumeist Säufer waren: „Ich wollte nicht leben, meine Mutter trank.“ „Großvater schlug im Suff meine Mutter mit der Axt.“ Nur die Kinder kommen in diesem Film zu Wort. Sie werden eines Tages alle von einem italienischen Hilfswerk eingeladen. Dort – in Italien – teilt man sie auf verschiedene Familien auf, die sich rührend um sie kümmern. Schon bald sagen Nastya und die anderen Mama und Papa zu ihren Gasteltern – und alle weinen, als es irgendwann wieder nach Hause geht. Fortan ist ihnen das weißrussische Kinderheim, in dem sie sich zuvor so behütet vorkamen, verleidet: Sie haben Heimweh nach Italien.

In allen Filmen, die ich sah, spielte die Kindheit bzw. Kinder eine große Rolle – auch in dem letzten: „White Sky“ von Susanna Helke aus Finnland. Es geht darin um eine russische Arbeiterfamilie, die im Wohnkomplex eines nordischen Nickel-Kombinats lebt: Die Gewässer sind schon lange tot und die Bäume ringsum abgestorben. Die Kinder sammeln Mutanten, und wenn die Fabrik eine bestimmte Sorte Rauch ausstößt, müssen in der Siedlung die Fenster geschlossen werden. Man lebt dort wie auf dem Mond: komfortabel mit gutem Gehalt, aber künstlich – andauernd muss man Sauerstoff inhalieren, die Arbeiter bekommen reinen Alkohol, um sich inwendig zu reinigen. Zu allem Überfluss war die Familie 1986 auch noch der Tschernobyl-Radioaktivität kurzzeitig ausgesetzt. Die Mutter befürchtet deswegen, dass all diese Lebensumstände ihrer Tochter Katja bereits zu sehr zugesetzt haben: „Auf deinen Zeichnungen ist die Sonne immer grau.“

Bis 25. Juni im Kino 1 des Ethnologischen Museums in Dahlem, Lansstraße 8. Infos unter www.ethnofilmfest.de „White Sky“: So., 18. 6., 14.15 Uhr; „Holiday for Orphans“: Fr., 23. 6., 11 Uhr; „The Stories of Koue Liisu“: So., 25. 6., 12 Uhr; „The Bathhouse“: So., 25. 6., 13 Uhr; „Der Dorfsheriff“, So., 25. 6., 13.10 Uhr

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