Die Bombe tickt schon

Vor dem ewigen Duell gegen Deutschland zweifelt die englische Öffentlichkeit an der taktischen Kompetenz von Nationaltrainer Kevin Keegan. Und der kann tatsächlich nicht mehr bis sechs zählen

aus SpaRONALD RENG

Jemand hatte ein altes, mächtiges Radio-Aufnahmegerät vor Kevin Keegan auf den Tisch gestellt. Der englische Nationaltrainer sah kurz auf den Apparat, dann darunter und fragte die zum Interview versammelten Journalisten: „Wem gehört das? Es tickt so komisch.“

Ein kleiner Scherz. So weit, dass jemand Bomben ins Trainingsquartier in die belgische Kurstadt Spa schickt, ist es noch nicht. Doch die Stimmung im Umfeld der englischen Fußball- Nationalmannschaft ist wieder einmal in bösartige Hysterie entgleist. Viel braucht es dazu in England nie, eine 2:3-Niederlage im EM-Auftaktspiel gegen Portugal sowie die Aussicht auf das ewige Duell mit Deutschland am Samstag genügten diesmal.

„Jeder Fan konnte sehen, dass England taktisch umstellen musste, um Portugal zu stoppen – warum konnte es dann Kevin Keegan nicht sehen?“, fragte Mark Lawrenson, in großen Zeiten einst Keegans Mitspieler beim FC Liverpool, später dessen Trainerassistent bei Newcastle United und heute Kolumnist des Boulevardblatts Daily Mirror: „Die taktische Naivität des englischen Teams war beängstigend, aber schlimmer noch war, dass Keegan nichts dagegen tat.“ Warum sich Lawrenson so aufregt, ist komisch: Er weiß doch aus ihrer gemeinsamen Zeit in Newcastle, wie wenig Keegan auf taktische Details wert legt. Keegan hatte Lawrenson damals speziell zum Coaching der Verteidigung angestellt, als Lawrenson dann aber daran gehen wollte, sagte Keegan: „Lass gut sein, heute üben wir Volleyschüsse.“ Und das ganze Team bolzte eine Ewigkeit aus 20 Meter volley aufs Tor.

Nicht, dass die übertriebene Aufregung der englischen Medien und auch der Fans in Spa zu spüren wäre. „Warum sollte ich zur Pressekonferenz gehen und mir die Pulsadern aufschneiden?“, fragte Keegan. „Ich bin ja grundsätzlich keiner dieser Leute, die Depressionen kriegen.“ Und er stellte seine Erkenntnis aus der Niederlage gegen Portugal vor: „Wir können immer noch die Gruppe gewinnen.“ Realistischer formuliert spielt England gegen Deutschland bereits um Sein oder Nichtsein.

Die Spieler haben mit Keegan über die taktischen Probleme diskutiert, etwas, wozu Keegan sie explizit aufgefordert hat (woraus der Mirror lächerlicherweise dann gleich eine Spielerrevolte bastelte). Im Mittelfeld war England gegen Portugal ständig in Unterzahl, allerdings müssen sich die Spieler das auch selbst zuschreiben: Das englische Team spielt zu starr in seiner Formation. Wenn ein Gegner wie Portugal nur mit einem festen Stürmer spielt, trauen sich die englischen Spieler nicht, einen ihrer vier Abwehrkräfte flexibel ins Mittelfeld zu pushen. So etwas muss nicht der Trainer anordnen, so etwas müssen Qualitätsspieler selbst erkennen.

Doch vermutlich werden solche taktischen Defizite am Samstag sowieso eine untergeordnete Rolle spielen. Deutschland fehlt die gedankliche Beweglichkeit und spielerische Schnelligkeit der Portugiesen. Zu erwarten ist, was Mittelfeldmann Paul Ince ein Match „im traditionell englischen Stil“ nennt. Auf deutsch: Es wird zur Sache gehen. Ince findet das toll, weil er seinen Freund und Vereinskollegen vom FC Middlesbrough, Christian Ziege, „mal richtig schön treten“ will.

Einen Wunsch an Erich Ribbeck hat Ince. Der Bundestrainer solle doch bitte Dietmar Hamann aufstellen. Hamann wechselte vergangenen Sommer zum FC Liverpool, Ince musste den Verein verlassen. „Der Trainer hatte entschieden, Hamann sei achtmal so gut wie ich: Liverpool kaufte ihn für acht Millionen Pfund und verkaufte mich für eine Million. Ich habe da noch etwas klarzustellen.“ Doch bei all dem kämpferischen Gerede kann es England nur schaden, wenn sie sich auf ein hauptsächlich physisches Duell einlassen. Sie sind die spielerisch bessere Elf und wären in der Lage, die Deutschen mit Tempo und Technik zu schlagen.

Bis zum WM-Finale 1966 muss zurückgehen, wer bei einer internationalen Meisterschaft einen englischen Sieg über ihren liebsten Feind sucht. 34 Jahre immer Probleme gegen die Deutschen, brummte einer in Spa. „Hey, aber die Probleme willst du doch nicht alle mir anlasten“, sagte Keegan, der ein Jahr im Amt ist. Er gebe zu, „England blieb in den letzten 34 Jahre unter den Erwartungen“. Aber, sagte Keegan, was wollt ihr denn: „Welche europäischen Länder haben in den letzten 34 Jahren etwas gewonnen: zwei. Frankreich und Deutschland.“ Und Italien, rief einer. „Und Italien“, wiederholte Keegan. Und Holland! „Richtig, Holland.“ Und Tschechien! „Tschechien, okay.“ Und Dänemark! „Ach ja, Dänemark.“ „Okay, also seht ihr“, sagte Keegan, „nur eins, zwei, drei, ähm, sechs Länder haben was gewonnen – oh, sechs Länder! Na ja, sind wohl doch einige, was.“