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Wilde Ritte durch Altstadtgassen

Zur Sonnenwende findet auf der Baleareninsel Menorca das Reiterfest von Sant Joan statt. Pferd und Mann lassen sich dann auf die tollkühnsten Kunststücke ein, angestachelt durch eine aufgedrehte Menschenmenge in tagelangem Festfieber

von ROLAND MOTZ

„Menorca is different“, behauptet Manolo britisch cool. Der Taxifahrer am Flughafen von Mahón sagt nicht etwa „Menorca es diferente“. Im Prinzip haben er und seine regionalistischen Freunde nichts gegen das System der Zweisprachigkeit, aber wenn schon zwei Sprachen, dann doch wohl Menorquin und Englisch, bitte schön. Natürlich spricht Manolo auch nicht von Mahón, sondern wie alle Menorquiner schlicht und einfach von Maó. Mit Spanien, mit der Halbinsel, wie es ein wenig abwertend heißt – schließlich lebt man selbst auf einer ganzen –, will er möglichst wenig zu tun haben.

Manolo lässt uns weit vor der Plaza aussteigen. Tausende sind vor uns gekommen, mit Sonderflügen, Fähren und Jachten. Ciutadella ist zum Bersten voll. Einige Engländer und ein paar Deutsche wie wir, vor allem aber Spanier haben sich unter die Einheimischen gemischt. Die „Festes de Sant Joan“ sind mittlerweile zu europaweiter Berühmtheit gelangt. Das spanische Fernsehen überträgt stundenlang die mittelalterlichen Reiterspiele, der katalanische Sender blendet sich gar nicht mehr aus. Mit dem größten balearischen Volksfest am Jahrestag des Schutzpatrons von Ciutadella wird der Sommer eingeläutet, gerät die sonst so unterkühlte und reservierte Inselbevölkerung in Ekstase.

Sonntagmorgen – kein Boot mehr fände Platz im fjordartigen, überaus malerischen, von Restaurants und Bars umsäumten Hafen von Ciutadella. Die Stadt ist beflaggt anlässlich der bevorstehenden Festlichkeiten zu Ehren Johannes des Täufers. Schon um neun Uhr versammeln sich die caixer, die Herrenreiter, im palastähnlichen Haus des caixer senyor, eines betuchten Bürgers, der während der nächsten Tage die Schirmherrschaft über die Stadt und den Festablauf übernimmt. Der homo des bè bekommt ein lebendiges Schaf auf die Schultern geladen, der caixer fadrí die rote Fahne mit dem weißen Malteserkreuz in die Hand gedrückt. Ihm folgen die Reiter. Bald darauf zieht der merkwürdige Trupp durch die noch ruhige mittelalterliche Stadt, um ihre Bewohner zu dem bevorstehenden Fest einzuladen. Der Schafträger läuft barfuß und ist in ein Fell gekleidet. Beide Hände des jungen Mannes sind mit einem roten Kreuz bemalt. Über dem linken Arm trägt er eine mit „Agnus Dei“ bestickte Decke. Den Schluss des kleinen Zugs bilden der Schirmherr und der Pfarrer. Alle tragen die traditionelle schwarze Kleidung mit schwarzer Fliege über dem weißen Hemd und schwarzem, länglichem Hut. Die Männer repräsentieren die verschiedenen sozialen Gruppen der Stadt: die Handwerker und Händler, die Bauern, den Adel und den Klerus. Schon nach einer Stunde ist der Mann mit dem Schaf schweißdurchnässt, aber der Trupp zieht weiter von Haus zu Haus und lädt zum Fest ein.

Überall werden die silbernen Tabletts auf den Tisch gestellt und wird die pomada aus dem Schrank geholt. Der mit Zitronensaft versetzte Gin ist zentraler Bestandteil der Fests de Sant Joan, seit die Engländer, angelockt vom besten Naturhafen des Mittelmeers, zu Beginn des 18. Jahrhunderts der Insel ihren Stempel aufdrückten. Doch das Fest selbst hat einen heidnischen Ursprung in Verbindung mit der Sommersonnenwende, über den niemand etwas Genaueres zu sagen vermag. Daran tragen türkische Freibeuter Schuld. Bei der Schleifung Ciutadellas 1588 ließen sie die städtischen Archive in Flammen aufgehen.

„Im Laufe der Jahrhunderte haben die Festrituale sich verändert und den Wandlungen innerhalb der Gesellschaft Rechnung getragen, ohne ihren feudalen Charakter verloren zu haben“, belehrt uns der Bürgermeister eine Spur zu akademisch. „Die einzelnen Festakte werden nach einem strikt festgelegten Protokoll durchgeführt, das man freilich im Taumel der kollektiven Ekstase kaum wahrnehmen wird.“

23. Juni, 6 Uhr nachmittags. Der große Platz vor dem Rathaus flimmert noch vor Hitze. Eine mehrtausendköpfige Menschenmenge wogt dicht gedrängt hin und her. Alles wartet auf die cabalgada, den großen Reitertrupp. Die Pomada fließt bereits in Strömen. In den engen Gassen drängeln sich die Menschen auf Stühlen und Balkonen.

Los caballeros, die Reiter, kommen. Mehr als hundert der besten Hengste Menorcas bahnen sich ihren Weg zur Plaza, allen voran der Ausrufer mit Trommel und Flöte auf einem Maulesel. „Früher sind die jinetes noch auf wilden Pferden eingeritten“, behauptet Joan, „die Reiter sind gekommen, um am Rathaus die Erlaubnis für den Beginn der Spiele zu bekommen.“ Frenetisches Geschrei und Getobe verschluckt die weiteren Erklärungen des Kellners vom Club Artistic. Die Menge ist elektrisiert. Die städtische Musikband beginnt zu spielen. Alle bewegen sich auf die Pferde zu, klatschen in die Hände, versuchen, sie zu erschrecken, zum Aufbäumen zu bewegen. Die Reiter lachen, zischen zwischen den Zähnen, und die Pferde beginnen unter tausendstimmigen Olé-Rufen zu steigen, beginnen zu tanzen wie die Menge, mit der Menge. Jaleo – so nennt man das hier auf Menorca. Die Reiter versuchen, die Pferde möglichst lange oben zu halten, Vorderbeine schlagen in der Luft aus. Beifall brandet auf. Die Musik spielt noch lauter. Die Pferde drehen sich um sich selbst, steigen erneut. Der erste Reiter kommt zu Fall, sitzt wieder auf, bekommt den schwarzen Hut gereicht und beginnt unter tosendem Beifall das Spiel erneut. Drei lange Runden drehen sie um den Platz, formen dabei es caragol, die Schnecke, reiten inmitten des Menschengewirrs, steigen immer wieder und noch einmal. Dann sind sie plötzlich verschwunden in den engen Gassen der Altstadt, nur Staub und Sand in der Luft zurücklassend. Die Reiter sind zu der kleinen Kirche Sant Joan de Missa außerhalb der Stadt geritten, um completas, Dankeslieder, zu singen.

In den fingerdick mit Sand bedeckten Altstadtgassen beginnen die Menschen, sich mit Haselnüssen zu bewerfen. Jeder Zweite trägt einen Sack voller Haselnüsse mit sich herum. Zwei Stunden dauert das fröhliche Dauerbombardement, bis über der fingerdicken Sandschicht eine fingerdicke Haselnusskernschicht liegt. Manche Geschäfte sind mit Holzbalken verbarrikadiert, andere hingegen offen. Dort sitzen Bekannte und Verwandte auf langen Stuhlreihen in den Innenhöfen und trinken Pomada. Die Spannung steigt. Die Reiter kommen in die Stadt zurück. Ein jeder trägt eine grüne Maisstaude in der Hand. In der Altstadt ist der Teufel los. Denn jetzt werden die Reiterkunststücke zwischen den Häusern vorgeführt, dort, wo es am engsten ist. Am Ende der Carrer Santa Clara befindet sich ein ehemaliges Nonnenkloster, durch dessen Garten die Reiter einer nach dem anderen reiten. Ein altes Ritual aus der Zeit, als jede adlige Familie ein weibliches Mitglied im Kloster hatte, dem sich so die einmalige Gelegenheit bot, einen seiner Verwandten durch die Gitter zu sehen.

Es wird eine lange Nacht, eine fröhliche, eine trunkene mit Pomada und Flirts, eine Nacht für Jung und Alt, deren Höhepunkte zweifellos die fan entras sind. So nennen sie es, wenn die Reiter, angestachelt von der entfesselten Menge in den Straßen Ses Voltas, Santa Clara und auf der Plaza Nova sich dazu verleiten lassen, mit ihren Pferden auf die Arkaden zu springen, um von dort in die Patios der Häuser einzudringen – mit gebeugtem Haupt, damit sie überhaupt durch die Tür kommen. Kaum vermag man zu unterscheiden zwischen Angst, überschäumender Begeisterung und zunehmender Trunkenheit der dicht an die Wände gedrängten Zuschauer, wenn der Reiter im Inneren des Hauses sein Pferd steigen lässt, seinen Hut dabei zieht, wieder hinausreitet, bevor der nächste Ritt in eine andere gute Stube ansetzt.

Mittag in Ciutadella nach einer langen Nacht. Die Reiter zelebrieren die Messe in der Kathedrale. Der Kellner vom Club Artistic trägt einen Arm in Gips, gebrochen von Pferdehufen.„Aber was ist das schon gegen zwei Tage und Nächte grenzenlosen Glücks“, weist er jedes Bedauern weit von sich. Das Spektakel auf der Plaza Es Born geht von Neuem los – es caragols. Etwas verhaltener als in der Nacht, aber sich langsam steigernd, bis sich die Menge langsam zur langen sandigen Verlängerung des Hafenfjords schiebt. Der Plaza de Sant Joan bildet eine natürliche mittelalterliche Arena, von beiden Seiten mit hohen Mauern eingegrenzt, hinter denen sich kleine Gärten steil zur Stadt hochziehen. Auf allen Mauern sitzen Menschen. Auf der Brücke, die den Sandplatz vom Hafen trennt, ist kein Durchkommen mehr. Sie kommen. Die städtische Musikband marschiert vorneweg. Die Bewohner der Häuser schütten eimerweise Wasser auf die Menge. Erneut beginnen die Pferde zu tanzen. Dann werden Wettspiele durchgeführt. Zunächst das Ringestechen, bei dem lanzenbewehrte Reiter auf ein gespanntes Seil zugaloppieren und dabei versuchen, einen Ring aufzuspießen. Dann folgt das abracament, bei dem sich jeweils zwei Reiter im vollen Galopp brüderlich umarmen. Das Publikum weicht erst im letzten Moment vor den heranstürmenden Pferden zurück. Wie durch ein Wunder wird niemand aufgespießt oder verletzt. Leider ist dem nicht immer so. Vor zwei Jahren gab es sogar Tote. Am Abend drehen die Jinetes noch einmal ihre Runden durch die Altstadt, am Nonnenkloster und der kleinen Plaza mit dem Denkmal des Schafes vorbei, bevor ein Feuerwerk auf der Plaza es Born den Schlusspunkt setzt.

„Bleibt doch, ab jetzt könnt ihr euch hier ein ganzes Jahr erholen wie wir“, scherzt Joan mit uns beim Frühstück am nächsten Morgen.

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