: Die SPD sucht den Messias
Die Berliner Sozialdemokraten sehnen sich nach einem Hoffnungsträger, doch der ist nicht in Sicht. Jetzt ist ein Dreikampf um den Parteivorsitz entbrannt, der Amtsinhaber Strieder demontiert
von DOROTHEE WINDEN
Kurz nach Mitternacht sind die Stimmen ausgezählt. Eine Sekunde lang herrscht überraschte Stille. Dann bricht Jubel los: Stefan Grönebaum, der vor kurzem noch völlig unbekannte Herausforderer von SPD-Parteichef Peter Strieder reißt die Arme zur Siegerpose hoch. Mit 69 Stimmen ist er in seinem Heimatkreisverband als Kandidat für den Parteivorsitz nominiert. Ein wichtiger Erfolg vor dem Landesparteitag am 15. Juli, bei dem die Berliner SPD eine neue Führung wählt.
Das Präsidium muss die Delegierten zur Ordnung rufen, um das Ergebnis für Parteichef Peter Strieder bekannt geben zu können: 29 Stimmen hat er erhalten und liegt damit immerhin vor dem dritten Kandidaten, Parteivize Hermann Borghorst. Der 52-jährige Gewerkschafter, der aus der Partei zur Kampfkandidatur gegen Strieder gedrängt wurde, hat erst am Nachmittag erklärt, dass er antritt. Er erhält nur 16 Stimmen, ein Fehlstart für den heimlichen Favoriten.
Ein Beobachter der Bundes-SPD in der letzten Reihe des Saales raunt seinen beiden Begleitern zu: „Das hier geht viel tiefer als wir ahnen. Das ist ein Erdbeben.“
Klar ist an diesem Ergebnis nur eines: Die Kluft zwischen Parteiführung und Parteibasis ist sehr viel tiefer als bisher angenommen. Die Quittung für den desolaten Zustand der Partei, die bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus im vergangenen Herbst auf einen neuen Tiefstand von 22,4 Prozent abrutschte, trifft Parteichef Strieder ebenso wie Parteivize Borghorst vom rechten Flügel. Der 38-jährige Grönebaum, ein Neuberliner, der in der Partei bislang kaum in Erscheinung trat, konnte sich als unverbrauchter Hoffnungsträger präsentieren.
Eine Vorentscheidung hatte man von diesem Abend erwartet, doch nun ist die Lage unübersichtlicher als zuvor. In den vier Wochen bis zum Parteitag kann noch viel passieren. Strieder wird um sein Amt kämpfen, Borghorst kann noch aufholen, und wie weit die anfänglichen Erfolge den Außenseiter Grönebaum tragen, ist ungewiss.
Gewiss ist nur, dass die Selbstzerfleischung der Partei weitergeht. 14 Parteivorsitzende hat die Berliner SPD seit 1945 verschlissen, die durchschnittliche Amtsdauer lag bei dreieinhalb Jahren. Strieder ist erst seit Januar 1999 im Amt. Doch nach 17 Monaten droht er nun von einer Woge der Unzufriedenheit hinweggespült zu werden. Er hat zu wenig Aufbruchstimmung in der Partei erzeugt, die das miserable Wahlergebnis bei der Abgeordnetenhaus-Wahl noch nicht überwunden hat. Vergeblich wirbt Strieder um Geduld. Doch der Parteivorsitzende trifft an diesem Abend auch nicht ansatzweise den richtigen Ton, um die Parteibasis zurückzugewinnen. Er redet am Publikum vorbei. Nur zwei selbstkritische Sätze ringt sich Strieder ab: „Ich gebe zu, dass ich Fehler gemacht habe, dass an meiner Kommunikation so einiges unzulänglich war.“
Borghorst, den viele als Integrationsfigur schätzen, der die Parteibasis wieder motivieren kann, gelingt es mit einer steif vorgetragenen Rede nicht, sich an diesem Abend als Hoffnungsträger zu präsentieren. Im Gegenteil: Schon fällt das böse Wort vom „Trittbrettfahrer“. Er habe sich mit seiner Gegenkandidatur erst aus der Deckung gewagt, als der Parteichef durch Überraschungserfolge des Außenseiterkandidaten Grönebaum schwer angeschlagen war. „Borghorst wird auch nicht unbeschädigt aus dem Rennen hervorgehen,“ prophezeit SPD-Fraktionschef Klaus Wowereit, der sich an diesem Abend ebenso wie die frühere Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing hinter Parteichef Strieder stellt.
Doch auch Grönebaum, der zweifellos an diesem Abend der rhetorisch brillanteste ist, stößt auf Widerspruch. Er wird als „intellektueller Überflieger“ abgetan: „Du hast eine Rede für eine 50-Prozent-Partei gehalten, eine Partei, die morgen alles anders machen kann. Wir sind aber in einer Großen Koalition.“
Doch Grönebaum trifft den Nerv der Frustrierten, die die elenden Kompromisse mit der CDU, in denen sie sich kaum wiederfinden können, satt haben. Der Partei ist die Orientierung abhanden gekommen.
Die SPD sucht einen Messias, einen Erlöser, der die Partei aus dem Jammertal führt. Dass der Name Matthias Platzeck fällt, ist ein Indiz dafür, dass im Grunde keinem der drei Kandiaten zugetraut wird, die Partei aus dem Tief zu führen. Dem Retter der Flutkatastrophe traut man zu, auch die Berliner SPD zu retten. Schon kursieren Gerüchte, dass Parteichef Gerhard Schröder Platzeck als künftigen Berliner Spitzenkandidat favorisiere. Doch Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe weist dies als „reine Spekulation ohne Kern“ zurück. Platzeck wird am 8. Juli zum neuen SPD-Chef gewählt – in Brandenburg.
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