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Die großen Ferien

Der Dokumentarfilmer Johan van der Keuken verabschiedet sich sanft von der Welt

Im Oktober 1998 erfuhr Johan van der Keuken, der bekannteste holländische Dokumentarfilmer, dass er nur noch wenige Jahre zu leben hätte: Dem unermüdlich Reisenden, der seit 1960 ungefähr 40 Filme gedreht hatte, über Blinde, Taube, Künstler, den Nord-Süd-Konflikt und seine Heimatstadt Amsterdam, wurde Prostatakrebs diagnostiziert.

So machte sich der, der vom Kapitalismus sprach, wo andere sich am sanften Fluss des Geldes freuten, noch einmal auf, um sich von der Welt zu verabschieden und zusammenzufassen, was sich nicht zusammenfassen lässt: sein Leben und Denken und wie er die Welt sieht. Die Gewissheit des baldigen Todes suspendiert vom Alltag wie große Ferien, und die Dinge, die man sieht, verlieren ihre Kanten: Der Film heißt „De grote Vakantje“.

Van der Keuken war in Bhutan. Minutenlang sieht man das runde Gesicht eines meditierenden buddhistischen Mönches und hört seinen konzentrierten Atem. Die Kamera ist ruhig, ohne statisch zu sein. Eine Kamera ist eine lebendige Maschine, die uns erlaubt, Dinge zu berühren, die wir sonst nicht berühren könnten. Später wird ein junger Mann verbrannt, der bei einem Busunglück ums Leben kam. Man hört die ruhige, kluge Stimme van der Keukens mit seinem Arzt sprechen über seine Scham, als Todkranker nicht mehr so zu sein, wie die anderen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn man die Prostata schon 1995 entfernt hätte. Entschuldigend lacht das Gesicht des Arztes. Der Tod passiert anderen, nicht einem selbst.

Lange Einstellungen von stillen Dingen, die dem Filmemacher gehören; alte Fotoapparate; ein Bild von Paul Klee; das Geräusch, wenn zwei Porzellantassen ineinander stehen, und die eine Tasse wackelt ein bisschen. Über die nächtliche Autobahn nach Rotterdam fahren ist Glück; oder nach Burkina Faso fliegen, um zu sehen „wie mühsam das Leben ist und mit wie viel Freude es trotzdem gelebt wird“.

An einer Tankstelle das Gespräch mit einem afrikanischen Filmemacher, der an einem Projekt über die Beschneidung von Mädchen arbeitet und seine Mutter mit einer Pistole bedrohte, als die sagte, dass sie ihre Enkelin beschneiden lassen wolle. Schöne, schwarze Frauen fahren auf ihren Motorrädern vorbei.

Lange verbrennen wir Dinge in unserem Körper, bis wir ganz verbrannt sind. Nosh van der Lely, seine Frau und Mitarbeiterin, sagt, dass wir Menschen im Innern eigentlich leer seien und zugleich nie allein. Immer sind die anderen dabei. Eine tibetische Schamanin saugt in der Prostatagegend des Filmemachers; später putzt sie sich die Zähne. Buddhistischer Realismus. Auch westliches Denken ist nicht frei von der Magie, die es leugnet. Im körnigen Fernsehbild sieht man Kosovoflüchtlinge.

Der Leib ist eine Versammlung unendlich vieler Zellen, sagt der Filmer, in dessen Körper Aufruhr herrscht. Nur wenn er Bilder machen könne, fühle er sich lebendig. Am Ende findet der 61-Jährige in Amerika eine Therapie, die zu helfen scheint, und arbeitet nun wieder an anderen Projekten.

DETLEF KUHLBRODT

„De grote Vakantje“. Regie: Johanvan der Keuken. Niederlande 2000,145 Min. Läuft im fsk.

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