: Raumschiff ohne Erdung
Bundestagsabgeordnete tagen seit knapp einem Jahr in Berlin. Die erhoffte Konfrontation mit der sozialen Realität einer Großstadt bleibt aus. Die Parlamentarier schauen lieber auf ihre Wahlkreise
von JULIA NAUMANN
Die Hoffnungen waren groß: Wenn die Parlamentarier aus ihrem Raumschiff Bonn nach Berlin kommen, dann würden sie endlich die Realität kennen lernen: den Obdachlosen an der Ecke, den Sozialhilfempfänger, die allein erziehende Mutter, den türkischen Jugendlichen, der nur gebrochen Deutsch spricht. Die unmittelbare Nähe zu den gesellschaftlichen Problemen könnte auch Politikverhalten und -verständnis beeinflussen.
Doch diese Erwartung, die die Berlin-Befürworter bei der Abstimmung im Juni 1991 als ein gewichtiges Argument für den Umzug in die Debatte brachten, hat sich nicht bestätigt. Das zeigt eine von Studenten der Berliner Humboldt-Universtät (HU) durchgeführte Umfrage unter 38 Mitgliedern des Bundestages.
„Politische Entscheidungen werden nicht beeinflusst, und auch die gesellschaftliche Realität ist für die Abgeordneten nicht offensichtlicher“, resümierte Tim Kesting, der an der HU Stadt-und Regionalsoziologie studiert, während der Präsentation der Studie bei der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Fast alle Befragten betonten ihre Verpflichtung in den Wahlkreisen. Sie denken daher vorwiegend in regionalen Kategorien. Es sei „absoluter Quatsch“, sagte ein SPD-Abgeordneter im Interview, dass der Umzug sein Politikverständnis verändert habe. Ein CDU-Politiker merkte an, dass ein Abgeordneter, der soziale Brennpunkte nur am Parlamentssitz wahrnehme, sich nicht in seinem Wahlkreis hätte wählen lassen sollen.
Viel Zeit für den Berliner Alltag haben die Abgeordneten auch nicht. „Bis auf wenige Ausnahmen verbringen die Abgeordneten außerhalb der Sitzungswoche die Zeit in ihrem Wahlkreis“, sagte Tim Kesting. Deshalb nehmen sie die kulturellen Angebote auch nur sehr spärlich wahr. Eine grüne Abgeordnete empfindet Theater, Museen und Ausstellungen sogar als „Überangebot“, das „einen erschlägt“. Ein SPD-Abgeordneter bezeichnete den „Figaro“ in der Staatsoper als „lahmarschig“.
Nicht die soziale Realität in Berlin per se, aber der Ort, an dem das Parlament jetzt sitzt, beeinflusst immerhin bei einer knappen Mehrheit die Arbeit der Parlamentarier. Ein CDUler gibt an, dass die Diskussionsprozesse um das Holocaust-Mahnmal und die Zwangsarbeiterentschädigung angesichts der vielen Gebäude aus der Vergangenheit „eine andere Beziehung zur Geschichte“ bekämen. Ein CSU-Abgeordneter bekommt immer eine „leichte Anwandlung von Nationalgefühl“, wenn er durchs Brandenburger Tor läuft.
Von einer „Weltstadt“ ist Berlin nach Ansicht der Bundespolitiker noch weit entfernt: Nur sechs Parlamentarier charakterisierten Berlin als „europäische Metropole“. Als häufigste Merkmale insgesamt wurden die typischen Attribute einer Großstadt genannt: „lebendig, hektisch, groß, anonym“. Schlechte Eigenschaften wurden auffällig selten erwähnt. Drei Abgeordnete nennen hier die Aufmärsche der „Chaoten“ in Kreuzberg am 1. Mai und die vielen Demonstrationen, andere den Hundekot.
Auch die Art des Eingeborenen ist vielen ein Dorn im Auge: So bemängelt eine PDS-Abgeordnete die „Unfreundlichkeit der Taxifahrer“. Ein SPDler findet sogar, dass die Berliner „großkotzig und arrogant“ seien. Der Stil der Lokalpolitiker wird ebenfalls kritisiert. Wolfgang Thierse (SPD), Bundestagspräsident und Altberliner, meinte während der Präsentation der Studie, die Stadt habe „erhebliche Gewöhnungsprobleme“. Sie gehöre nicht mehr nur ihren Bewohnern, sondern allen, die sich einmischten.
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