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Therapie: Singen

Die Berliner Stotterer-Selbsthilfe wird 30 Jahre alt. Gefeiert wird mit prominenten wie Henning Harnisch

Ein Mann bestellt an der Käsetheke ein fades Stück Gouda. Obwohl er ihm nicht schmeckt und er eigentlich Camembert kaufen wollte – doch er kann das Wort „Gouda“ besser aussprechen. Wortvermeidungen sind ein Problem, mit dem stotternde Menschen sich im Alltag herumplagen.

Das Schlimmste am Stottern ist die Angst davor. Seit 30 Jahren unterstützt die Berliner Stotterer-Selbsthilfe e. V. Betroffene, Sprechängste abzubauen und Stottern als eine andere Art des Sprechens zu akzeptieren. Zum heutigen Jubiläum stellt der Verein auf dem Aktionstag „Wenn die Angst den Mund verschließt“ seine Arbeit vor.

Marilyn Monroe, Winston Churchill und Bruce Willis – Beispiele von berühmten Stotterern zeigen, dass Sprachstörungen nicht in die soziale Isolation führen müssen. Auch in der Zwölf-Apostel-Kirche in Tiergarten stehen heute Nachmittag prominente Stotterer auf der Bühne: Ex-Basketballprofi Henning Harnisch von Alba Berlin und die Schwimmerin Anke Scholz erzählen, wie sie ihre Angst vor Pressekonferenzen besiegten. In seinem Vortrag „Wie das Stottern seinen Lauf nimmt“ spielt Prof. Dr. Wolfgang Wendlandt vom Institut für Integrative Stottertherapie kindliche Sprachprobleme bei der Entwicklung vom Zwei- zum Zwanzigjährigen durch.

„Wenn man singt, kann man nicht stottern“, erklärt Carsten Nitsch, Bariton im Philharmonischen Chor und Mitglied der Stotterer-Selbsthilfe. Er wird heute Lieder von Franz Schubert singen. Der Gesang ist eine Art Therapie für ihn.

Rund 80.000 Stotterer gibt es in Berlin und Brandenburg, 80 sind Mitglied im Verein. Stottern hat nichts mit neurotischem Verhalten oder falscher Erziehung zu tun. Von außen betrachtet, ist Stottern eine Störung der Sprechmotorik. „Was man dabei nicht sieht, sind die Gefühle der Betroffenen“, sagt Axel Piechotka von der Stotterer-Selbsthilfe – „man möchte vor Scham im Boden versinken“. Aus Angst vor solchen Situationen trauen viele Stotterer sich nicht mehr aus der Wohnung. „Hier liegt das eigentliche Problem“, so Piechotka.

Auch gute Therapien können erwachsene Stotterer nie völlig von dem Symptom befreien. „In Stresssituationen kommt das Stottern immer wieder zum Vorschein“, sagt Piechotka. „Etwa wenn man eine Frau auf der Straße ansprechen möchte oder mit dem Chef ein Gespräch über eine Gehaltserhöhung führt.“

Gerade solche Situationen nicht zu meiden, sondern genau das zu tun, was einem Angst macht, rät die Stotterer-Selbsthilfe. Gemeinsam mit anderen übt Axel Piechotka, Leute auf der Straße anzusprechen und nach der Uhrzeit zu fragen oder Camembert an der Käsetheke zu bestellen.

Doch nicht nur Betroffene berät der Verein. Er gibt auch Tipps, was andere im Umgang mit stotternden Menschen beachten sollten: den Blickkontakt mit dem Gesprächspartner halten und ihn aussprechen lassen. Und man sollte den Inhalt in den Vordergrund stellen: Nicht wie gesprochen, sondern was gesagt wird, ist wichtig. GRIT FRÖHLICH

„Wenn die Angst den Mund verschließt“. 14–21 Uhr, Zwölf-Apostel-Kirche, An der Apostelkirche 1,Berlin-Tiergarten, Infotel: 7 74 47 14,http://www.bvss.de

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