: Folter gehörte zum guten Ton
Von den brutalen Methoden französischer Militärs im Algerienkrieg wollte damals und auch in den Jahrzehnten danach in Frankreich niemand hören
aus Paris DOROTHEA HAHN
Achtunddreißig Jahre nach dem Ende des Algerienkrieges wagt sich Frankreich ein ganz kleines bisschen weiter in jenes dunkle Kapitel zurück. Ausgelöst durch den Bericht einer 62 Jahre alten Algerierin, Louisette Ighilahriz, die 1957 drei Monate lang gefoltert wurde, gab einer der damaligen französischen Militärchefs diese Woche zu, dass Gewalt bei Verhören von Gefangenen in Algerien üblich war. Der inzwischen pensionierte General Jacques Massu legte dabei ein spätes „Mea culpa“ ab und sagte, dass er heute die Folter bedauere.
General Massu erklärte der Tageszeitung Le Monde, dass die Folter zur „Stimmung jener Zeit in Algier“ gehörte, dass die Regierung in Paris davon wusste und sie gut hieß, und dass die Folter sowohl von Spezialkommandos als auch von Militärs praktiziert wurde (s. Kasten). Ein zweiter hoher Militär aus dem Algerienkrieg, Marcel Bigeard, widerspricht diesem Eingeständnis. Er bezeichnet den Folterbericht, in dem er namentlich genannt wird, als „Lügengespinst“ und als Angriff auf seine Ehre.
Nachdem sich Frankreich seit Mitte der Neunzigerjahre darangemacht hat, die eigene Rolle bei der Kollaboration mit Nazi-Deutschland und bei der Deportation der Juden aufzuklären, ist nun offenbar das nächste Kapitel Vergangenheitsbewältigung dran. Fast alle Medien in Paris griffen in diesen Tagen das Eingeständnis von General Massu auf.
Zusätzlich angespornt hat sie der algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika. Bei dem ersten Staatsbesuch eines algerischen Präsidenten in Frankreich seit zwanzig Jahren mahnte Bouteflika vergangene Woche in einer Rede vor der französischen Nationalversammlung, das Schweigen über den Algerienkrieg müsse beendet und das „manchmal deformierte Bild der Dekolonisierung“ in den Schulbüchern korrigiert werden.
Dass die französische Armee in Algerien gefoltert hat, ist nichts Neues. Schon während des Krieges machten sowohl Algerier als auch Franzosen die brutale Gewalt gegenüber der algerischen Bevölkerung bekannt. Bloß wollte das damals und in den Jahrzehnten danach niemand hören. Dafür sorgte eine große Koalition des Schweigens in Paris, die von den Rechten bis hin zu den Sozialisten reichte. Von den großen französischen Parteien ging im Laufe des von 1954 bis 1962 währenden Kolonialkrieges lediglich die KP auf Distanz.
Wehrpflichtige, die über französische Gräueltaten berichteten, kamen als angebliche Mitglieder der Nationalen Befreiungsfront Algeriens (FLN) ins Gefängnis. Der einzige höhere Offizier, der damals die brutalen Methoden kritisierte, General de Bollardière, wurde vor ein Militärgericht gestellt. Das Buch „La Question“ des Journalisten Henri Alleg, das beschreibt, wie ihn Mitglieder der 10. Fallschirmspringerdivision von General Massu folterten, wurde bei seinem Erscheinen 1961 sofort verboten. Beschlagnahmt wurden auch Zeitungen, die während des Algerienkrieges die französischen Methoden anprangerten.
Nach offizieller Pariser Lesart gab es in dem Département Algerien, das Paris von all seinen Kolonien am wichtigsten war, nicht einmal einen Krieg. Bis Ende der Neunzigerjahre, als das französische Parlament sich zu der Sprachregelung Algerienkrieg durchrang, hieß die Operation, bei der weit über eine Million Menschen ums Leben kamen: „Aufrechterhaltung der Ordnung“.
Ein knappes Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, bei dem Frankreich dank seiner kommunistischen und gaullistischen Widerstandskämpfer auf der Seite der Sieger gestanden hatte, war das Land im Algerienkrieg auf die andere Seite der Geschichte gewechselt. Hatte einen Kolonialkrieg geführt und verloren. Und war dabei haarscharf an einem Bürgerkrieg im „Mutterland“ vorbeigeschlittert. Zigtausende junger wehrpflichtiger Franzosen und nicht wenige ehemalige Widerstandskämpfer, die sich nach 1945 im Militär engagiert hatten und erst in Indochina und später in Algerien kämpften, litten später unter lebenslänglichem Schweigen. Viele von ihnen haben nie über ihre Rolle im Algerienkrieg gesprochen. Manche erwähnten sie erst im Angesicht des eigenen Todes.
Und wenn doch einer der Akteure über die Folter sprach, dann um sie zu rechtfertigen. Der heute reumütige General Massu begründete 1971 in seinem Buch „La Vraie Bataille d'Alger“ (die wirkliche Schlacht um Algier), dass seine Männer neben Schlägen auch Elektrizität bei Verhören einsetzen mussten, um „die terroristischen Attentate zu stoppen“. Als das Buch erschien, galt längst eine Generalamnestie für die Beteiligten am Algerienkrieg.
Während die französischen Städte die Taten der Widerstandskämpfer im Kampf gegen Nazi-Deutschland mit Plaketten und Denkmälern ehren, ist der Widerstand der algerischen Unabhängigkeitskämpfer komplett ausgeblendet. Selbst die französische Linke spricht bis heute kaum von dem verdrängten Krieg. Sowohl die Folterzentren in Algerien, als auch die Internierungslager in Frankreich sind vergessen. Wer nach ihnen fragt, bekommt auch im Jahr 2000 die knappe Antwort, die seien für „Terroristen“ gewesen. An den Gedenktagen zur Erinnerung an zwei Massaker, bei denen französische Polizisten Anfang der Sechzigerjahre algerische Demonstranten ermordeten, versammeln sich alljährlich in Paris nur ein paar hundert Menschen, darunter viele Alte, die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren Geld und Waffen für die Unabhängigkeitskämpfer transportierten und dafür vielfach mit Gefängnis büßten.
Auch jetzt beschränkt sich die Debatte noch auf einen einzelnen Fall. Die wenigen Aufklärer der frühen Stunde zeigen sich skeptisch, was die möglichen politischen Folgen angeht. Der seinerzeit gefolterte Journalist Alleg erinnert heute daran, dass die Repression in Algerien „industriellen Charakter hatte“, und verlangt, dass die Kriegsverbrecher verfolgt werden: „Solche, die heute behaupten, es tue ihnen Leid. Und solche, die alles bestreiten.“ Ein alter Algerier, der einen Teil des Krieges in französischen Gefängnissen verbracht hat, hält ihm bitter entgegen, dass Frankreich „nie“ Klarheit über seine Geschichte schaffen werde. „Algerien“, sagt er, „ist nicht Vichy. Die Gewalt fand nun mal nicht direkt in Frankreich statt.“
Wie die Mehrheit seiner Landsleute hat auch der mutmaßliche „Retter“ von Louisette Ighilahriz seinen Algerienkrieg verdrängt. Die damals Zwanzigjährige, die unter dem Namen „Lila“ einem Kommando von Unabhängigkeitskämpfern angehörte, war den Franzosen am 28. September 1957 in die Hände gefallen. Nach ihrem jetzt von Le Monde veröffentlichten Bericht wurde sie beinahe täglich schwer misshandelt (s. Kasten unten). Ende 1957 sorgte ein französischer Militärarzt dafür, dass das schwer verletzte Folteropfer in ein Krankenhaus und anschließend in ein „normales“ Gefängnis kam. Seiner Familie hat der kürzlich verstorbene französische Militärarzt Rechaud – ein ehemaliger Widerstandskämpfer aus Marseille – nie von dem Algerienkrieg erzählt. Seine älteste Tochter will auch heute nichts darüber wissen – nicht einmal über die Details seiner Geste gegenüber „Lila“, die ihr Leben lang von der Folter gezeichnet blieb: „Das war eine schwere Zeit, die wir zum Glück hinter uns gebracht haben.“
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