: Oranje spaßig ernst
Nach dem 6:1 gegen Jugoslawien vermischen sich allseits die Gefühle, und nur eines scheint klar zu sein: Holland kann Europameister werden
aus Rotterdam RALF MITTMANN
Wow! Es war einer dieser raren Abende, an denen die Wucht eines Ereignisses die große Welt des Fußballs auf den Kopf stellen kann. Warum? Weil plötzlich alle guter Laune sind und nicht nur die Sieger lachen, sondern auch Verlierer. Weil sich plötzlich Spaß und Ernst miteinander vermischen, bis kaum mehr einer weiß, was denn nun wie gemeint ist, und weil sich daraus die absurdesten Szenen ergeben oder auch die witzigsten.
6:1 hat Holland das Viertelfinale gegen Jugoslawien gewonnen und dabei so unglaublich aufgetrumpft, dass es die letzten Zweifler, Nörgler und Besserwisser im Oranjeland aus den Sesseln riss. „Ein 6:1 gibt es selten auf diesem Niveau“, hat Hollands Kapitän Frank de Boer festgehalten. Spaß und Ernst, was sollte man glauben, über was lachen? Da musste Jugoslawiens Trainer von Graham Turner, dem Dienst habenden Press Officer der Uefa, höflich dazu aufgefordert werden, doch, please, dem holländischen Kollegen Platz zu machen. Überhaupt nicht mehr aufhören mit reden wollte Vujadin Boskov. Gelacht hat er, den holländischen Fußballern das Prädikat „exzellent“ verliehen und mit ausgebreiteten Armen erklärt: „Was kann ich denn schon anderes tun, als zu gratulieren?“ Zum Halbfinale sei so viel zu sagen, dass die Italiener über „eine ausgezeichnete Organisation“ verfügen, dass sie „clever“ sind und „gefährlich“ und dass „Holland trotzdem klare Vorteile hat“. Spaß und Ernst. „Nein“, antwortet Frank Rijkaard auf die Frage, ob dem berauschenden Ergebnis ein kleines Räuschlein am Biertisch folgen werde, „gefeiert wird nicht, wir fahren direkt nach Hoenderloo und absolvieren noch vor Mitternacht die nächste Trainingseinheit.“ Hoenderloo liegt in der Nähe von Apeldoorn, dort haben die Holländer ihr Quartier aufgeschlagen, und dort gab es zu später Stunde sehr wohl Gerstensaft, wenn auch nur als Schlummertrunk. An die „nächste Übungseinheit“ dachten sie aber wirklich im Team der großen Sieger. Frank de Boer: „Wir müssen arbeiten, arbeiten, arbeiten. Wenn du hart arbeitest, kommt die Qualität von alleine. Das ist der Schlüssel zum Erfolg.“
Ernst und Spaß. Herzhaft lachend nimmt Patrick Kluivert die Auszeichnung zum Man of the Match entgegen. Dann erklärt er, „ich bin ehrlich“, dass er das dritte seiner vier Tore gar nicht selbst geschossen habe, „sondern der jugoslawische Verteidiger“. Ehrgeizig setzt Uefa-Mann Turner nach und verkündet: „Vier für Kluivert. Der Schiedsrichter hat es so vermerkt.“ Stolz klingt heraus aus der Stimme des Engländers, vier Kluivert-Tore passen viel besser zu diesem sensationellen Abend, denn das ist Rekord.
Drei Treffer eines Spielers in einem Spiel gab es dagegen schon öfter. Zuletzt der Portugiese Conçeiçao gegen Deutschland, 1988 van Basten, 1984 Platini gleich zweimal, 1980 Klaus Allofs, 1976 Dieter Müller. Am Montagmorgen, don’t worry, be happy, korrigiert sich die Uefa dann doch, nur drei für Kluivert.
Spaß und Ernst? Zu reiner Sachlichkeit war kaum jemand zu Mute. Das Fazit der Begegnung hätte sonst so lauten müssen: Die Jugoslawen waren bis auf die erste Viertelstunde schwach, ganz besonders die Verteidigung. Bei den Holländern, die in dieser Verfassung reif sind für den Titel, überzeugte Edgar Davids einmal mehr als Zweikampfwunder und als geistiger Lenker des Teams. Mehrere Spieler bewiesen Formanstieg. Und mit Kluivert und Dennis Bergkamp gab es zwei überragende Kräfte im Oranje-Trikot.
Der große Blonde mit dem soften Touch brachte selbst Chefkritiker Johan Cruyff zum Schwärmen. So habe er sich ihn immer gewünscht, so sei „Bergkamp absolut unersetzlich für die Mannschaft“. Das denkt auch Frank Rijkaard. Ob er mit Dennis sprechen werde über dessen zum EM-Ende angekündigten Rücktritt aus der „Elftal“, wurde der Bondscoach gefragt. Er sagte nur zwei Worte: „Ja, natürlich.“ Kein Spaß. Voller Ernst.
Jugoslawien: Kralj - Komljenovic, Djukic, Mihajlovic, Saveljic (56. Jovan Stankovic) - Jugovic, Govedarica, Stojkovic (52. Dejan Stankovic), Drulovic (70. Kovacevic) - Milosevic, Mijatovic Niederlande: Van der Sar (65. Westerveld) - Bosvelt, Stam, Frank de Boer, Numan - Overmars, Cocu, Davids, Zenden (80. Ronald de Boer) - Bergkamp, Kluivert (60. Makaay)Zuschauer: 50 000; Tore: 0:1 Kluivert (24.), 0:2 Kluivert (38.), 0:3 Kluivert (51.), 0:4 Kluivert (54.), 0:5 Overmars (78.), 0:6 Overmars (90.), 1:6 Milosevic (90.)
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