: Amerikas Gewissen
aus Denver PETER TAUTFEST
Den zwölf Männern, die sich in ihren schlecht sitzenden Anzügen um das Rednerpult gruppieren, möchte man nach Einbruch der Dunkelheit nicht begegnen. Die Szene spielt in der Washingtoner Gewerkschaftszentrale der Teamster, jener berüchtigten amerikanischen Transportarbeitergewerkschaft, die unter ihrem legendären Boss Jimmy Hoffa eher eine Mafia denn eine Arbeiterorganisation war. Den hageren, nach vorn gebeugten Mann in ihrer Mitte aber, der aussieht, als würde er gleich in Tränen ausbrechen, den erwartet man nicht in der Gesellschaft dieser bulligen Typen: Ralph Nader.
James Hoffa junior, der heute den Teamstern vorsteht und von dem man noch nicht recht weiß, ob er mit dem Erbe seines Vaters gebrochen hat oder es versteckt fortführt, tritt ans Podium und sagt: „Wir hatten ein sehr anregendes Gespräch. Niemand spricht so beredt wie Ralph Nader über die Rechte von Arbeitern, über Handel und die Folgen der Globalisierung.“
Wie kommt einer von Amerikas Heiligen in Teufels Küche?
Seltsames Stelldichein
Das seltsame Stelldichein zwischen den Funktionären dieser Gewerkschaft und Amerikas renommiertem Anwalt für Verbraucherrechte ist eine Facette dessen, was Nader als blau-grüne Koalition propagiert, das Bündnis von Grünen und „blue collar“, von Ökos und Blaumännern. Naders Auftritt mit Hoffa letzte Woche in Washington hat Aufsehen erregt, nicht nur wegen der Mesalliance.
Zum Parteitag der amerikanischen Grünen, die am Sonntag Ralph Nader zu ihrem Präsidentschaftskandidaten wählten, kamen 200 Medienvertreter nach Denver. Vor vier Jahren fand deren Kongress noch weitgehend unentdeckt statt. Und das, obwohl die Grünen auch damals schon Nader nominierten – nur dass der damals die Kandidatur zwar angenommen, dann aber keinen Wahlkampf geführt hatte.
Damit Nader auffällt, braucht er nur ein Mikrofon. Dann gewinnen seine Augen, die unter den vorstehenden Brauen aussehen, als würde der Mann wie geprügelt nach oben schauen, an Intensität, dann nimmt seine Stimme die beißende Bitterkeit an, die seit fast 40 Jahren sein Markenzeichen ist: „Arbeiterrechte sind kein Thema in diesem Wahlkampf“, sagt Nader, „weder Gore noch Bush interessieren sich dafür.“
Ein Mann ohne Charisma
Ralph Nader ist nicht für sein Charisma berühmt. Seine Stärke sind Fakten- und Detailkenntnisse: „100.000 Menschen kommen jedes Jahr bei Arbeitsunfällen um, das sind mehr Menschen, als durch Verbrechen getötet wurden. Das bestverdienende eine Prozent der amerikanischen Bevölkerung besitzt heute so viel wie 95 Prozent der Bevölkerung zusammengenommen. Von den 130 Millionen Erwerbstätigen verdienen in Amerika 44 Millionen Arbeiter weniger als 10 Dollar die Stunde, 40 Millionen Menschen leben unter der Armutsgrenze. 1980 hatten amerikanische Arbeiter die höchsten Löhne, heute stehen sie an zwölfter Stelle. Nach zehn Jahren des legendären amerikanischen Langzeitbooms verdient die Mehrheit der Arbeiter inflationsbereinigt so viel wie 1973, obwohl sie 160 Stunden im Jahr mehr arbeitet. 25 Prozent der amerikanischen Kinder leben in Armut. Ein Drittel der persönlichen Konkurse gehen auf Arztrechnungen zurück, die keine Versicherung zahlt.“ Nader kann stundenlang so weiterreden, und man ahnt, dass weder Bush noch Gore auf eine öffentliche Debatte mit Nader scharf sind.
Doch gerade das ist Ziel von Teamstern und Grünen: Republikaner und Demokraten sollen Ralph Nader nicht von den großen Fernsehdebatten im Herbst ausschließen. „Wer will schon den Langweiler Gore und den drögen Bush hören?“, fragt Nader. „Außerdem gehören die Wahlen dem Volk und nicht den Konzernen, die diese Debatten sponsern.“
Ohne die Gewerkschaften kann Al Gore, der Kandidat der Demokraten, gegen George Bush nicht gewinnen. Er braucht ihre Wahlkampfspenden, die Stimmen ihrer Mitglieder und ihre Organisationen zur Wählermobilisierung. Doch nicht alle amerikanischen Gewerkschaften haben Gore ihre Unterstützung zugesagt. Außer den Teamstern hat auch die mächtige Autoarbeitergewerkschaft sich noch nicht entschieden, und die Gewerkschaft der Krankenschwestern in Kalifornien hat sich gar offen für Nader ausgesprochen.
Neues Wählerreservoir
Beim Sammeln der notwendigen 40.000 Unterschriften, die in Massachusetts nötig sind, um Nader auf den Wahlzettel zu bringen, kam Conal Foley, ein 71-jähriger Aktivist der Grünen in Boston, innerhalb eines Nachmittags auf 6.000 Unterschriften von streikenden Elektrizitätsarbeitern. Nader öffnet durch seine Kandidatur den bisher völlig unbedeutenden Grünen ein neues Wählerreservoir. Aus der Allianz von Gewerkschaftern und Umweltschützern, die in Seattle und Washington gemeinsam Schlachten gegen Welthandelsorganisation und Weltbank schlugen, soll eine neue gesellschaftliche Kraft werden. Demoskopen errechnen für Nader 6 Prozent der Stimmen, in Kalifornien vielleicht sogar mehr als 10 Prozent.
Wird das alles am Ende nicht Bush nützen? Die Stimmen, die Nader kriegt, gehen doch Gore verloren. Und wenn Gore Kalifornien verliert, kann er nicht gewinnen. Nader lässt solche Argumente nicht gelten: „Ich mache mir keine Sorgen darum, dass ich Gore Stimmen wegnehme, sondern eher darum, dass er mir Stimmen wegnimmt“, sagt er mit jenem säuerlichen Lächeln, das neuerdings etwas Schalkhaftes hat: „Nicht ich verschlechtere Gores Chancen gegen Bush, sondern er die meinen.“
Jeder kennt Ralph Nader
Die Logik scheint ansteckend zu sein: „Gore sollte eigentlich aufgeben“, sagt Mike Feinstein, grüner Stadtrat im kalifornischen Santa Monica, „Nader hat gegen Bush viel bessere Chancen als Gore.“ Und Dee Berry (74) aus Kansas City, die in den USA als Großmutter der Grünen gilt, meint: „In Staaten wie Texas, wo Bush Gouverneur ist, hat Gore sowieso keine Chancen. Die Stimmen für Nader aber wären immerhin Proteststimmen, die uns näher an die 5 Prozent bringen.“ Im amerikanischem Mehrheitswahlrecht bedeuten 5 Prozent der Stimmen keinen Einzug in den Kongress, dafür aber staatliche Wahlkampffinanzierung in Höhe von 12 Millionen Dollar. Und mit dem Geld könnten die Grünen in die nächsten Wahlkämpfe als gut finanzierte und ernst zu nehmende Kraft ziehen.
Die Grünen sind in den USA weitgehend unbekannt, nach einer Umfrage aber wissen 80 Prozent der Amerikaner, wer Ralph Nader ist. Und das, obwohl das Buch, das seinen Ruf begründete, 1965 geschrieben wurde. Nader griff damals die Autoindustrie und ihre unsicheren Produkte an und gewann einen Prozess gegen General Motors. Da Naders Kampagnen, die so genannten Naders Raiders (Ritter für Nader) meist an Universitäten ihre Hauptquartiere haben, ist Ralph Nader auch den Jüngeren ein Begriff. Und die Älteren erinnern sich daran, dass Gesetze für Produktsicherheit und Sicherheit am Arbeitsplatz auf Kampagnen zurückgehen, die Nader organisiert hat. Da können die Grünen nur profitieren.
Dee Berry sieht in Ralph Nader aber auch eine Gefahr. „Die Leute achten ihn, aber sie fürchten ihn auch als ihr eigenes schlechtes Gewissen“, sagt sie. Und Dee Berry sieht für Ralph Nader eine Gefahr: „Sie wissen, dass er die Wahrheit spricht, und sie nehmen ihn ernst, weil er alle Behauptungen mit Material belegen kann und vor allem weil er Alternativen hat. Und wenn er von der Dringlichkeit spricht, mit der wir unser Leben und Wirtschaften umstellen müssen, dann ahnen sie, dass das ihr Leben betrifft.“ Und mit dieser Art von Politik würde man im konsumorientierten Amerika nicht nur Freude auslösen. „Ich mache mir manchmal Sorgen, er könnte ermordet werden“, sagt Dee Berry.
Euphorie bei den Grünen
Berrys Sorgen werden von der Euphorie der Grünen überlagert: Endlich, so glauben sie, wird jenes Protestpotenzial, das 1992 Ross Perot 19 Prozent der Stimmen einbrachte, 1998 in Minnesota einen Catcher zum Gouverneur wählte und dieses Jahr McCain zeitweilig wie eine Alternative zu Bush aussehen ließ, die erstarrte amerikanische Parteienlandschaft aufmischen.
Eine Euphorie, die nicht jeder teilt. „Die Grünen scheinen keine Ahnung von der Tiefe der kulturellen Differenzen und der Klassenspaltung in diesem Land zu haben“, sagt Santosh George, ein indischer Immigrant, der seit achtzehn Jahren in Denver Sozialarbeit macht und durch eine Demo auf den Kongress neugierig geworden ist. „Die Klasse der Besitzenden hat in Amerika mehr erreicht, als sie je zu träumen wagte. Amerikanern ist auch nur der Gedanke an eine Alternative fremd.“ Nader immerhin ist eine – und eine bekannte dazu.
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