: Ausbeutung der Kinderlosen?
Das Bundesverfassungsgericht verhandelt über Klagen gegen die Pflegeversicherung. Für die Regierung bleibt sie „unverzichtbar“, für ihre Gegner „familienfeindlich“
KARLSRUHE taz ■ Rund fünf Jahre nach ihrer Einführung wird die Pflegeversicherung nun noch einmal grundsätzlich in Frage gestellt.
Gestern verhandelte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mündlich über sechs von achtzig Verfassungsbeschwerden, die das Reformwerk an unterschiedlichen Punkten angreifen. Der Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium, Erwin Jordan (Grüne), verteidigte die Pflegevesicherung dagegen als „unverzichtbar“.
Seit 1995 ist fast die gesamte Bevölkerung gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit pflichtversichert. Derzeit beziehen 1,86 Millionen Menschen Leistungen aus den Pflegekassen, davon 500.000 in Heimen. Helfende Angehörige bekommen zudem je nach Pflegestufe eine Anerkennung in Höhe von 800 bis 2800 Mark. Für all dies müssen 1,7 Prozent des Erwerbseinkommens aufgewandt werden.
Nach Meinung einiger Kläger ist aber das gesamte System von Anbeginn an verfassungswidrig, da der Bundestag das entsprechende Gesetz gar nicht hätte beschließen dürfen. Umstritten ist vor allem der private Teil der Pflegeversicherung, der diejenigen erfasst, die auch in der Krankenversicherung privat versichert sind. Die Bundesregierung glaubt jedoch, dass eine „Zusammenschau“ veschiedener Kompetenzvorschriften die Pflegeversicherung tragen kann.
Öffentlickeitswirksamer war ein anderer Vorwurf: Die Pflegeversicherung sei „familienfeindlich“, kritisierte der Darmstädter Sozialrichter Jürgen Borchert als Vertreter des Familienverbands. Menschen mit Kindern würden im Alter meist von diesen gepflegt, während Kinderlose eher auf teure professionelle Helfer zurückgreifen müssen. Borchert forderte daher, dass Familien bei der Pflegeversicherung künftig weniger Beiträge zahlen müssen.
Diesem Wunsch wollte die Bundesregierung jedoch nicht nachkommen, denn nach ihrer Ansicht ist die Pflegeversicherung heute schon „ausgesprochen familienfreundlich“, so Staatssekretär Jordan. „Kinder und nicht berufstätige Ehegatten werden kostenlos mitversichert, erhalten aber die gleichen Leistungen wie ein Beitragszahler.“ Außerdem verwies Jordan auf die Unterstützung pflegender Angehöriger, davon seien immerhin 90 Prozent Frauen.
Letzteres wollten Borchert und sein Mitstreiter Alfred Rollinger jedoch nicht gelten lassen. „Wir alle haben Eltern, aber hier geht es um die Zukunft der Sozialversicherung, und da kommt es auf die Kinder an“, so Rollinger. Seiner Ansicht nach besteht hier eine „Transferausbeutung“ der Kinderlosen. Über diese und die übrigen Verfassungsbeschwerden wird Karlsruhe in einigen Monaten entscheiden.
CHRISTIAN RATH
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